Vorträge

gehalten am

Internationalen Braille-Seminar vom 20. bis 23.2.1997

im Bildungs- und Ferienzentrum Hotel "Solsana" des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbandes, CH-3792 Saanen bei Gstaad

Übersicht

Zurück zum Seitenanfang
Zurück zur Seminar-Übersicht
Zurück zur Hauptseite www.braille.ch


Mats Landfors:
Geschichtlicher Überblick über die Braille-Schrift und deren Anpassung an verschiedene Sprachen

Als Louis Braille, von Charles Barbier inspiriert, sein Punktalphabet für die Blinden kreierte, ging er selbstverständlich von der französischen Variante des lateinischen Alphabets aus.

Als man das internationale phonetische Alphabet schuf, womit man sämtliche Sprachen der Welt phonetisch, d.h. von den Lauten her darstellen kann, benutzte man gleichfalls das lateinische Alphabet als Grundlage. Das Braille-Alphabet eignet sich heute Dank seiner Internationalität gleichfalls gut für alle Sprachen.

Internationale Buchstaben sind in der Blindenschrift generell diejenigen Zeichen, welche die lateinischen Laute von "a" bis "z" wiedergeben. Als nationale Buchstaben gelten mit Zeichen versehene Buchstaben und andere, welche häufig Laute darstellen, die im Lateinischen Alphabet nicht enthalten sind. Im Französischen z.B. sind nationale Buchstaben das "c cedille", die akzentierten Vokale, das Doppelzeichen "ö" (für oe) und "w" (in Lehnwörtern aus germanischen Sprachen).

Es ist nun sehr interessant zu analysieren, wie man die Braille-Schrift für verschiedene Sprachen angepasst hat. Man könnte glauben, dass diese Anpassung in Bezug auf die übrigen romanischen Sprachen problemlos gewesen sei. Früh zeigten sich jedoch schon die ersten Anzeichen von Zersplitterung: In gewissen lateinamerikanischen Ländern wählte man eine andere Darstellung von Akzentzeichen als in Spanien: Man benutzte die französischen Zirkonflex-Zeichen als Akutbuchstaben. Aber nach dem zweiten Weltkrieg gelang es glücklicherweise, die spanische Braille-Schrift zu vereinheitlichen. Was die übrigen romanischen Sprachen betrifft, so gab es nur geringfügige Anpassungsprobleme. Die Herstellung der englischen Braille-Schrift war eine leichte Sache. Aber trotzdem entstand nach und nach eine Spaltung zwischen der britisch-englischen und der nordamerikanischen Blindenschrift. Die Unterschiede sind allerdings nicht allzu gross.

Die speziellen Zeichen der deutschen Braille-Schrift für "ä" (Punkte 3-4-5) und "ö" (Punkte 2-4-6) waren leicht zu finden. In den skandinavischen Ländern folgte man dem deutschen Vorbild, wobei man noch ein Zeichen für den besonderen Buchstaben "a" (mit Ringel obendrauf, Punkte 1-6) hinzufügte. Im Isländischen erhielt die Blindenschrift leider ein wenig Zufallscharakter: So wird das "i" mit Akutzeichen durch das französische "e-zirkonflex" (Punkte 1-2-6) und das "u" mit Akutzeichen durch das Französische "i-trema" (Punkte 1-2-4-5-6) dargestellt.

Für Esperanto kreierte man eine vorbildliche Punktschrift: Das Zirkonflex-Zeichen wurde einfach mit Hilfe des "Unterzeichens" (hinzugefügter Punkt 6) dargestellt.

Die baltischen Sprachen Lettisch und Littauisch benützen das lateinische Alphabet. Die Schöpfer der entsprechenden Blindenschriften wichen jedoch leider vom lateinischen Braille-Fundament ab und führten z.B. in der littauischen Punktschrift neue Zeichen für die Buchstaben "u", "v" und "z" ein.

Die Anpassung der Braille-Schrift für Sprachen, welche nicht das lateinische Alphabet verwenden, war natürlich schwieriger. Diesbezüglich ist die russische Punktschrift vorbildlich: Man kann feststellen, dass die Schöpfer der russischen Punktschrift teilweise von der deutschen Blindenschrift ausgingen. So benutzt man z.B. für den Laut "w" den deutschen Buchstaben "w". Die russische Blindenschrift diente dann als Vorlage für die Punktschrift vieler Sprachen der ehemaligen Sowjetunion.

Die Schaffung einer Hebräischen Braille-Schrift, welche man nach der Art des lateinischen Alphabets liest und schreibt, verursachte Probleme. Es gibt zwei Punktschriftalphabete für die hebräische Sprache: ein deutsches und ein amerikanisches. Für das Neuhebräisch bevorzugt man in Israel die amerikanische Version.

Geht es um die Wiedergabe sog. Silbenschriften in Braille-Schrift, welche oft sehr viele Zeichen beinhalten, wählte man die phonetische Lösung: Anstelle der speziellen Silbenzeichen drückt man jede Silbe phonetisch aus.

Als man in China versuchen wollte, die Schrift radikal zu vereinfachen, fand man in der Blindenschrift eine vorbildliche Lösung. Aus historischen und anderen Gründen war dieses Projekt jedoch nicht zu verwirklichen. Die gegenwärtige Chinesische Blindenschrift ist immer noch recht kompliziert: Es scheint sich dabei um eine Art von Code- und phonetischem Alphabet zu handeln.

Bereits in der frühen Geschichte der Blindenschrift begann man Stenographie- bzw. Kurzschriftsysteme zu entwickeln. Die französische Kurzschrift erschien bereits um 1880. Für einige Braille-Alphabete - z.B. fürs englische - hatte dies zur Folge, dass man auch in der sog. Vollschrift einige Zeichen änderte, etwa das Symbol für das Fragezeichen.

In der Blindenschrift bediente man sich ursprünglich generell des vorangestellten Zeichens mit den Punkten 4-6 zur Kennzeichnung von Grossbuchstaben. Aber nach der Einführung der englischen Kurzschrift benutzte man dafür das Zeichen mit dem Punkt 6. - Und diese Änderung spaltete die Braille-Welt in zwei Lager - Punkt 6 oder Punkte 4-6 als Grossschreibezeichen.

In den Fünfzigerjahren unseres Jahrhunderts begann man mit der Produktion von Hörbüchern und akustischen Zeitschriften; und die Punktschrift verlor nach und nach ihre einstige Bedeutung. Man zweifelte gar an der Nützlichkeit einer derart platzraubenden Schriftform. Die elektronische Revolution erweckte unser ABC zu neuem Leben. Die Entwicklung vollzog sich aber in rasantem Tempo, und irgendwie fehlten Gelegenheiten, Möglichkeiten oder gar die Lust zum Koordinieren dieses Prozesses. Bereits beim Versa-Braille-Gerät gab es verschiedene Systeme: ein amerikanisches und ein europäisches 6-Punkte-Computer-Braille.

Das Erscheinen des 8-Punkte-Computerbraillecodes verursachte deshalb grosse Probleme, da man die Punktschrifttabellen nicht genügend aufeinander abgestimmt hatte. Es ist eminent wichtig, dass wir Nichtsehenden, die wir ja die Braille-Schrift in erster Linie benutzen, mit allem Nachdruck dafür eintreten, dass unnötiges und blödsinniges Chaos auf diesem Gebiet vermieden wird. Die Internationalität unserer Schrift wollen wir nicht verlieren. Kreiert man für jede Sprache eine eigene vorgeschriebene Braille-Schrifttabelle, so bewirkt dies bloss heillose Konfusion.

Eine höchst beunruhigende Tendenz der letzten Jahrzehnte besteht im Ändern von Satzzeichen in der Punktschrift. Derlei Veränderungen untergraben das auf Universalität basierende Fundament unserer Schrift. Was tun? Wir wollen die Einheitlichkeit der Braille-Schrift bewahren.

Möge dieses Seminar gute Richtlinien zur Förderung einer einheitlichen Braille-Schrift ausarbeiten.

Mats Landfors
Hovrättsbacken 14
S-852 37 Sundsvall
Schweden

Übersetzung: Martin Meyer

 

Zurück zum Seitenanfang
Zurück zur Seminar-Übersicht
Zurück zur Hauptseite www.braille.ch


Norbert Müller:
Zur Umsetzung des ASCII-Codes in Brailleschrift und deren Anpassung an verschiedene Sprachen

Bitte erwarten Sie nicht von mir, daß ich Ihnen ausführlich und mit größtmöglicher Sachkompetenz berichte, wie der aktuelle Stand auf dem Gebiet der Umsetzung des ASCII-Codes in Brailleschrift ist. Ich gehöre entsprechenden Gremien nicht an und bekomme nur aufgrund meines internationalen Engagements mit, welche Aktivitäten laufen und welche Ergebnisse erzielt werden - soweit überhaupt Ergebnisse vorliegen. Eine der Überlegungen, die diesem Seminar zugrunde liegen, ist ja gerade, aus der Sicht der Nutzer darüber zu diskutieren, in welche Richtung sich die Brailleschrift weiterentwickelt und welchen Einfluß wir als Anwender darauf nehmen können. Ausgangspunkt meines Referates sind also meine eigenen Erfahrungen und Überlegungen.

Als ich noch zur Grundschule ging, habe ich gelernt, daß die Brailleschrift die internationale Blindenschrift ist. Während die Sehenden für manche Sprachen unterschiedliche Schriften lernen müssen, können wir immer auf die gleiche Schrift zurückgreifen. Als ich dann anfing, Englisch zu lernen, fiel mir ein erster Unterschied auf: Das Fragezeichen bestand plötzlich aus den Punkten 2,3,6 anstatt nur 2,6. Damit ließ sich leben. Dann mußte ich die englische Kurzschrift lernen, und daß die in den einzelnen Ländern völlig unterschiedlich sein muß, sah und sehe ich auch heute noch ein.

Als dann Anfang der 70er Jahre die deutsche Blindenkurzschrift reformiert wurde, hat man auch gleich den Satzpunkt verändert: Er bestand nur noch aus Punkt 3; für den Apostroph nahm man Punkt 6. Jetzt mußte ich beim Schreiben schon aufpassen, daß ich den richtigen Satzpunkt für die richtige Sprache nahm.

1983/84 war ich in den USA und fing dort an, mich mit Computern zu befassen. Da mußte ich wieder eine neue Schrift lernen: Computerbraille. Ich lernte, daß man die Zahlen ohne Zahlenzeichen, aber heruntergesetzt schreiben mußte. Das war immer noch gut lesbar und störte mich wenig. Daß man bei einer 1-zu-1-Darstellung auf das Zahlenzeichen verzichten mußte, war ja einzusehen. Natürlich mußten die Satzzeichen geändert werden: Ich lernte, daß der Satzpunkt aus den Punkten 4,6, das Komma aus Punkt 6, der Doppelpunkt aus 1,5,6 bestand usw. Das war sehr gewöhnungsbedürftig; aber nun ja, man brauchte es ja nur anzuwenden, wenn man was in Computerbraille schrieb, und die Notwendigkeit hatte ich damals nicht.

Zurückgekehrt nach Deutschland kam ein böses Erwachen: 1. brauchte man Computerbraille auch, wenn man eine Braillezeile an einen PC anschloß, und 2. war da ein anderes Computerbraille. Das schlimmste daran: Um die Satzzeichen nicht ändern zu müssen, hatte man die Zahlen geändert: man nahm die Buchstaben, die für die Zahlen genutzt werden und setzte einfach Punkt 6 dazu; also Punkte 1,6 für die 1, 1,2,6 für die Zwei usw. Probleme ergab das bei der 8, die dem ü (u-Umlaut) und der 9, die dem ö (o-Umlaut) entsprach. Also wurden alle Umlaute gleich durch neue Zeichen ersetzt, ebenso wie das SZ-Zeichen, dessen Original man für Computer-Satzzeichen brauchte. Auch die 0 mußte selbstverständlich geändert werden, weil ein j mit Punkt 6 ja bekanntlich ein w ist. Man nahm Punkte 3,4,6, was ja einem j noch entfernt ähnlich sieht. Diese Version von Computerbraille fand ich verdammt ärgerlich, denn dadurch waren Texte auf einer Braillezeile schlechter zu lesen und bei so dargestellten Zahlen mußte ich mehr aufpassen als bei runtergesetzten Ziffern. Viele von uns haben sicher schon früher bei privaten Texten aus Zeit- oder Platzgründen das Zahlenzeichen weggelassen und die Zahlen anders geschrieben. Ich habe - wie viele andere - oft bei Daten oder Uhrzeiten mit einer Folge von tief- und hochgeschriebenen Zahlen gearbeitet; den Punkt 6 habe ich nie verwendet. Ob ich da die große Ausnahme bin?

Der Fairness halber sei angemerkt, daß es Gründe gibt, die Zahlen so darzustellen, wie ich es eben beschrieben habe: Auf einer Braillezeile mag es leicht sein, zu erkennen, ob es sich um hoch- oder tiefgesetzte Zeichen handelt. Viele Leser hätten aber Schwierigkeiten, wenn sie bei auf Papier gedrucktem Computerbraille vor dem gleichen Problem stehen.

Der größte Frust kam für mich allerdings, als ich mir 1994 während eines USA-Aufenthaltes ein Braille Lite gekauft habe. Dabei handelt es sich um ein dem Computer stark verwandtes Gerät, das sowohl über eine Sprachausgabe als auch ein Brailledisplay verfügt. Die deutschsprachige Version hatte noch einige Mängel; deshalb blieb ich anfänglich bei der englischen, zumal ich die Sprachausgabe sowieso selten eingeschaltet hatte und ohnehin in den USA vorwiegend Texte in Englisch eintippen mußte. Am letzten Tag meines Aufenthalts erhielt ich dann die funktionsfähige deutsche Software für das Braille Lite. Als ich sie geladen hatte, gab es eine böse Überraschung: Meine schönen Texte waren weitgehend unleserlich geworden. Natürlich ist es mir gelungen, sie mit etwas Mühe zu entziffern und umzuschreiben. Ich gebe zu, daß ich als "Spielkind" sogar Spaß daran hatte; aber der Umstand, der mir diesen Spaß vermittelt hatte, blieb ärgerlich. Jetzt war mir praktisch das vor Augen bzw. unter die Finger geführt worden, was ich theoretisch schon wußte: im Blindenwesen hatte man sich noch nicht auf einen einheitlichen ASCII-Code festgelegt.

ASCII ist eine Abkürzung und steht für "American Standard Code of Information Interchange" (Amerikanischer Standard-Code des Informationsaustauschs). Es handelt sich also um einen Standard. Standards sollten allgemein Gültigkeit haben. In der Tat wurde der ASCII-Code überall da, wo man in etwa die gleiche, nämlich die lateinische Schrift, anwendet, benutzt. Für die Sehenden war das kein Problem. Warum es im Blindenwesen nicht von Anfang an einen einheitlichen ASCII-Braille-Standard gab, weiß ich nicht. Ich vermute, es hat sich zunächst keiner die Mühe gemacht, sich darum zu kümmern. So kochte jeder sein eigenes Süppchen, und das dürfen wir jetzt auslöffeln.

Auf den ersten Blick mag es erscheinen, als ob es zwei konkurrierenden Systeme gäbe: Die europäische und die amerikanische. Auffälligster Unterschied: Die Amerikaner haben die heruntergesetzten Zahlen und geänderte Satzzeichen, die Europäer verwenden die Zahlen mit Punkt 6 und haben die Satzzeichen weitgehend beibehalten. Beim genaueren hinsehen stellt man dann aber fest, daß es in Europa regionale - also länderbezogene - Unterschiede gibt; jeder will den ASCII-Code so umsetzen, wie es ihm beliebt bzw. wie er es gewohnt ist.

Einer der erfreulichen Fortschritte, die ich in meiner internationalen Tätigkeit erlebt habe, ist, daß die Blindenorganisationen endlich dazu übergehen, Sitzungs- und Seminarunterlagen in Brailleschrift bereitzustellen. Meist sind sie in Englischer Vollschrift geschrieben, damit auch diejenigen sie lesen können, die die Englische Kurzschrift nicht beherrschen. Und hier fallen mir die Unterschiede deutlich auf:

Ich habe vorhin erklärt, wie man in Deutschland in Computerbraille die Zahlen umgesetzt hat. Wenn ich Texte aus Frankreich - z. B. vom Büro der Europäischen Blindenunion - bekomme, ist die 0 eine andere: Sie entspricht dem Zahlenzeichen (Punkte 3,4,5,6). Bei Texten, die in Spanien gedruckt sind, entspricht der Satzpunkt dem deutschen; die Klammern aber bestehen aus 1,2,6 für Klammer-auf und 3,4,5 für Klammer zu.

Wo wir schon bei Klammern sind: In den guten alten DOS-Zeiten gab es auf dem Computer - wie auf der Schreibmaschine - nur ein Redezeichen (auch "Gänsefüßchen" genannt). Aber es gab unterschiedliche Zeichen für Klammer-auf und Klammer-zu. Dem mußte man im Computerbraille Rechnung tragen. Man löste das Problem, indem man die Zeichen für Rede-Anfang und Rede-Schluß sowie für die Klammern einfach ausgetauscht hat - eine kleine Umgewöhnung, die ohnehin nur Computernutzer betraf. In einigen Ländern wollte man aber besonders schlau sein und führte die Änderung auch im "literarischen" Braille, also in der allgemein gebräuchlichen Brailleschrift, ein. Dann kam Windows und andere sog. "Grafische Benutzeroberflächen" und mit ihnen Programme zur Texterfassung, die so schlau waren, daß sie - wie im Buchdruck - ein Anführungszeichen-unten und ein Ausführungszeichen-oben erzeugen und darstellen konnten. In den deutschsprachigen Ländern haben wir das noch rechtzeitig gemerkt, sonst hätten wir wahrscheinlich auch die Klammern und Gänsefüßchen getauscht und uns so ein Eigentor geschossen.

Wer heute von Computern und ihren Möglichkeiten spricht, kommt am Internet nicht vorbei. Die Zahl derer, die sich in ihm tummeln, nimmt rasend schnell zu, und die Fülle an Informationen, die dort abrufbar sind bzw. täglich um die Welt sausen, ist unvorstellbar. Gerade für blinde Menschen ist das von Vorteil. Solange diese Informationen vorwiegend gemäß einem weltweit gültigen Standard durchs Netz laufen, können wir sie umsetzen, wie wir wollen bzw. wie es unsere Hilfsmittel uns vorschreiben. Was aber, wenn unsere Druckereien Bücher, die von ihnen auf Diskette gespeichert wurden, austauschen wollen? Vor allem dann, wenn die Texte in Kurzschrift sind, wird es Probleme geben. Vor dem Druck muß der Drucker erst auf den anderen ASCII-Braille-Code umprogrammiert werden; gleiches gilt für Brailledisplays, wenn der Text damit gelesen werden soll. Die meisten Geräte bieten die Möglichkeit, zwischen mehreren Braille-Tabellen zu wählen. Das Problem ist also lösbar. Aber ich frage trotzdem: Warum umständlich, wenn's auch einfach geht? Und was tun wir, wenn wir zweisprachige Texte lesen oder drucken wollen?

Das soeben aufgezeigte Problem ist nicht nur theoretisch denkbar. Im neuesten Katalog der National Braille Press, Boston, USA, habe ich bereits ein Buch entdeckt, das nur auf Diskette, und zwar in Englischer Kurzschrift, abgegeben wird. Wenn ich es mir kaufe, darf ich also meine Braillezeile immer dann umschalten, wenn ich in dem Buch lesen möchte.

Soweit die Probleme, wie sie sich aus meiner Sicht darstellen. Ich habe am Anfang ausgeführt, daß es durchaus Bemühungen gibt, einen international einheitlichen ASCII-Code auch für Brailleschrift zu etablieren. Ich habe versucht, mich Sachkundig zu machen und dabei folgendes erfahren:

Es gibt einen Entwurf für einen Internationalen Standard, nämlich ISO DIS 11548. Er entspricht im wesentlichen dem, was wir als "Eurobraille" kennen. Das bedeutet, daß Ziffern mit Punkt 6 geschrieben werden, während die Satzzeichen weitgehend unverändert bleiben. Für lateinische Alphabete, für ISO 8859-1 (Latin Alphabet No. 1) und die Code-Tabellen 437 und 850 wurde ein komplettes System entwickelt.

Seit 1993 wird versucht, den Standard international durchzusetzen. Daß es nicht schneller vorangeht, liegt, wie mir Erich Schmid aus Wien und Ernst-Dietrich Lorenz aus Hannover, beide Mitstreiter für dieses Projekt, erläutert haben, am Geldmangel: Durch die Einsprüche, die es gegen den ursprünglichen Normentwurf gegeben hat, mußten die Normtabellen radikal umstrukturiert werden. Das Korrigieren der Daten, die etwa 40 Schwarzschriftseiten umfassen, käme laut Berechnungen der entsprechenden Arbeitsgruppe auf etwa 4000 bis 4500 Dollar. Das liegt daran, daß die Daten auf einem Großrechner, zu dem nicht jeder Zugang hat, geändert und in das WinWordformat gebracht werden müssen; was die Sache dabei vor allem verteuert, ist, daß die Punkte nicht nur benannt, sondern die einzelnen Zeichen auch graphisch abgebildet werden müssen.

Es kommt jetzt darauf an, für das Projekt Sponsoren zu finden. Wenn das gelingen würde, müßte der Entwurf der ISO (International Standardizing Organisation) vorgelegt werden, damit er zu einem offiziellen Standard wird. Dann hat jedes Mitglied der ISO die Möglichkeit, Kommentare abzugeben und über den Entwurf abzustimmen.

Wenn die Abstimmung zugunsten des Vorschlages ausfällt, hätte man ein System zur offiziellen Norm erhoben. Aber was dann? Werden die Nord-amerikaner gewillt sein, ihr System, das meiner persönlichen Meinung nach z. B. im Bereich der Zahlen leichter zu lesen ist wie das unsere, aufzugeben? Auch der private Nutzer hat bei vielen Geräten die Möglichkeit, die Brailletabellen so zu ändern, wie es ihm beliebt. Ich kenne einige Computeranwender in Deutschland, mich eingeschlossen, die davon Gebrauch gemacht haben und z. B. das SZ-Zeichen geändert haben, weil seine offizielle Computerbrailleversion dem Zahlenzeichen ähnlicher sieht als dem entsprechenden Symbol im literarischen Braille.

Und hier zeigt sich noch ein weiteres Problem, daß ich nicht unerwähnt lassen möchte: Ein sehender Mensch hat eine einheitliche Schrift, die zwar für verschiedene Anwendungen besondere Schriftzeichen kennt, aber alles baut aufeinander auf. Der blinde Mensch hat es da heute schwerer: Er lernt zunächst das Braillesystem, das wir in literarischen Büchern finden, und das ich hier als "literarisches Braille" bezeichnet habe. Wenn er sich mit Mathematik oder wissenschaftlichen Texten befassen muß, wird es notwendig, eine spezielle Braille- Mathematikschrift zu lernen, die sich teilweise sehr vom literarischen Braille unterscheidet und - auch das muß erwähnt werden - die international nicht einheitlich ist; in Deutschland gibt es z. B. zwei davon. Schließlich kommt noch das computerbraille hinzu, sozusagen als dritte Variante einer einst einheitlichen Schrift. In Nord-Amerika gibt es Bemühungen, einen "Unified Braille Code", also eine einheitliche Brailleschrift, zu entwickeln, die diesem Dilemma ein Ende setzen soll. Ob das gelingt, bleibt abzuwarten. Wünschenswert und sinnvoll wäre es auf jeden Fall.

Obwohl ich schon als Schüler immer mit der Mathematik auf Kriegsfuß stand, muß ich noch einmal auf die Mathematikschrift zurückkommen: Pedro Zurita, der Generalsekretär der Weltblindenunion, hat mir einmal von Bemühungen berichtet, eine weltweit einheitliche Mathematikschrift zu schaffen. Man hat sozusagen die Väter der beiden führenden Schriftsysteme in einer Arbeitsgruppe vereinigt, die diese Aufgabe lösen sollte. Das Ergebnis war leider nicht die einheitliche und allgemein anerkannte Braille-Mathematikschrift, sondern ein drittes, konkurrierendes System. Das war eigentlich zu erwarten: Jeder der Experten hielt sein System natürlich für das beste und war deshalb zwar zu Verbesserungen, nicht aber zur grundsätzlichen Aufgabe seines ursprünglichen Systems bereit. Vielleicht wäre es erfolgversprechender, statt den Experten Anwender in einem Gremium zusammenzufassen und diesen die Aufgabe zu geben, das einheitliche System zu entwickeln.

Lassen Sie mich zum Schluß meiner Ausführungen das gesagte noch einmal zusammenfassen: Die Brailleschrift sollte eine international einheitliche Schrift sein. Mehr und mehr ist festzustellen, daß regionale Unterschiede sich nicht mehr nur auf Buchstaben beschränken, die es in nur einigen Sprachen gibt, sondern auch Satzzeichen und - im Computerbereich - Zahlen erfassen. Es gibt auch Fälle, wo die Bedürfnisse des Computerbrailles das literarische Braille verändert haben. Ein Einheitlicher ASCII-code für Brailleschrift ist - zumindest für lateinische Alphabete - als Entwurf vorhanden und könnte, sobald man die erforderlichen Gelder aufgetrieben hat, implementiert werden. Aber wird er dann auch allgemein akzeptiert?

Norbert Müller
Deutsches Blindenbildungswerk
Weil am Rhein
Deutschland

 

Zurück zum Seitenanfang
Zurück zur Seminar-Übersicht
Zurück zur Hauptseite www.braille.ch


Jan Bemelmans:
Computergestützte Braille-Produktion in den Niederlanden: Entwicklungen, Normierung, Zukunft

Diesen Vortrag gestalte ich zur Hauptsache anhand persönlicher Erfahrungen, die ich während neun Jahren als professioneller Braille-Setzer sammeln konnte. Dieser Zeitraum reicht von 1986 bis 1995.

Zunächst sei festgehalten, Dass ich bereits seit meinem 6. Altersjahr als Braille-Nutzer gelten kann. Diese Tatsache kam mir auch in meiner Berufstätigkeit als Punktschriftsetzer sehr zu Pass. Die endgültige Form eines in Punktschrift zu übertragenden Textes hatte ich jeweils schon im Kopf; diese entsprach meinem Wunsche, den Anforderungen des Benutzers zu entsprechen, jedoch immer auch treu dem Regelsystemen zu folgen, die zu meiner Zeit als Braille-Setzer galten. Diese frühe Berührung mit der Braille-Schrift war ausserdem sehr hilfreich beim Verfolgen der Entwicklungen auf dem Gebiete der professionellen EDV-gestützten Braille-Produktion.

Ich arbeitete für die Bibliothek "Le Sage ten Broek" in Nijmegen. Diese Einrichtung war nicht nur eine Bibliothek im engeren Sinne, sondern auch Blindenschrift- und Hörbuchverlag. In Amsterdam befindet sich Lehrmittel- und Fachbibliothek (SVB). Diese "SVB" beauftragte verschiedene Produktionsstätten, darunter auch die Bibliothek in Nijmegen, mit der Herstellung von Büchern für den Unterricht. Folglich bestand der grösste Teil meiner Arbeit in der Herstellung und im Probelesen von Lehrbüchern, obschon populärwissenschaftliche und belletristische Werke für den eigenen Bibliotheksbestand gleichwohl zu meinem Ressort gehörten.

Als ich 1986 mit meiner Tätigkeit begann, benutzte man in Nijmegen Rechner unter dem Betriebssystem CP/M. ... CP/M war zu Beginn der 80er Jahre populär, vor dem allgemeinen Bekanntwerden des heute gebräuchlichsten Betriebssystems MS-DOS. Die Bibliothek in Nijmegen hatte früher bereits ein speziell für sie entwickeltes rechnergestütztes Produktionssystem benutzt, bei welchem die Dokumente auf Minikassetten gespeichert wurden. Als ich dort anfing, galt dieses System schon als veraltet und unzuverlässig. Die CP/M-Apparate arbeiteten mit 5 1/4-Zoll-Disketten, die viel praktischer und zuverlässiger waren. Zum eintippen der Schwarzdruckvorlage verwendete man das Textverarbeitungssystem WordStar. Ausserdem arbeitete man mit einem eigens entwickelten System, welches die Braille-gerechtere Formatierung bewerkstelligte (kürzere Zeilen, hinzufügen von punktschrift-spezifischen Vorzeichen). Jedoch hatte die übertragende Schreibkraft auch noch einiges an Regeln zu berücksichtigen, so u.a. über die Verwendung des Apostrophs und des Satzpunktes, wofür es eine spezielle Braille-Syntax gab. Nach diesem Arbeitsgang musste der Braille-Setzer von Hand verschiedene Kontrollen durchführen (richtige Silbentrennung, punktschriftgemässe Zeichensetzung, Korrekte Seiteneinteilung, wo nötig die opportune Aufteilung des betreffenden Werkes in verschiedene Punktschriftbände). Auch die Titelseite und das Inhaltsverzeichnis mit den richtigen Seitennummern waren (teilweise) Handarbeit. Sobald ein Braille-Band sowohl vom Inhalt als auch vom Äusseren her den gestellten Anforderungen entsprach, wurde das entsprechende Computerfile einem Transformationsprogramm unterzogen, welches den Text in das sog. MIT-Format konvertierte. Dieses Format war Voraussetzung für den ordnungsgemässen Papierausdruck mittels Braille-Printer.

Das vorgängig beschriebene Procedere bedeutete bereits eine erhebliche Zeitersparnis verglichen mit dem direkten Kopieren des Schwarzschriftoriginals mittels Punktschriftmaschine. Bei einem unterlaufenen Fehler war es nicht mehr nötig, die ganze Seite neu zu schreiben. Man konnte ja den betreffenden Fehler unmittelbar im Computerfile korrigieren. Ausserdem war es theoretisch möglich, eine unbegrenzte Anzahl Punktschriftausdrucke herzustellen. Trotzdem suchte die Bibliotheksleitung nach weiteren technischen Rationalisierungsmöglichkeiten, um die Produktion zu beschleunigen. Die Bibliothek in Nijmegen hing wie alle anderen Druckereien für Sehbehinderte und Blinde stark von Staatssubventionen ab. Und diese staatlichen Unterstützungen flossen zusehends spärlicher. Ausserdem wollte man "die Dienstleistung für die Benutzer durch kürzere Lieferfristen verbessern". Nijmegen war nicht der einzige Ort in den Niederlanden, wo Punktschrift produziert wurde. Auch in Den Haag und in Ermelo gab es eine entsprechende Druckerei. Jedoch existierte bei der Suche nach besseren Produktionsmethoden keinerlei Zusammenarbeit unter diesen drei Bibliotheken. So gab es auch keinerlei Normierung bei den jeweils verwendeten Systemen. Deshalb war ein gegenseitiges Austauschen von Computerfiles nicht oder kaum möglich. Dieses Fehlen von Normierungen bezog sich nicht bloss auf computertechnische Aspekte (Format der Files, Diskettengrösse usw.); vielmehr bestand auch noch Uneinheitlichkeit bezüglich braille-technischer Belange. Diese braille-technischen Details reichen bis in die Computerbedienung; z.B. geht es um folgendes: Welche Codes soll man zur Erzeugung spezifischer Punktschriftzeichen beim Drucker verwenden? Soll man - sagen wir - um das Braille-Symbol mit den Punkten 4-5 zu erzeugen, die geschlossene eckige Klammer (ASCII-Code 93) oder das Tildezeichen (ASCII-Code 126) verwenden? ... Bei der Normierung des Punktdrucks hätte man sich auch über die Art der Seitenpräsentation einigen müssen. Ferner gab es verschiedene Standpunkte zur Verwendung von Grossschreibezeichen, zu Interpunktionsfragen oder zur Frage, ob man Silbentrennung haben wollte oder nicht. Verzichtet man auf das Trennen von Wörtern, kann man schneller arbeiten, also auch mehr produzieren. Andererseits vergeudet man dabei aber Papier. deshalb hörte man von den Trennungsbefürwortern häufig das Argument, in jedem Band mit etwa 50 einseitigbeschriebenen Blättern im Format 29 Zeilen mal maximal 33 Zeichen würde man mindestens 2 - 3 Seiten einsparen. Ausserdem ist vom Standpunkt des Lesers her gesehen eine volle Zeile viel angenehmer zu lesen als eine halbe oder gar Viertelszeile, welche sich daraus ergibt, dass ein längeres Wort wegen 2 oder 3 Buchstaben nicht mehr als Ganzes auf der Zeile platz fände. In Nijmegen war man lange Zeit bestrebt, den spärlichen Platz auf einer Punktschriftseite voll auszunutzen. Diesem Gesichtspunkt schenkte man grosse Aufmerksamkeit als es darum ging, ein neues Texttransformationssystem für IBM-kompatible Rechner zu entwickeln, die dann im Jahre 1987 die alten CP/M-Maschinen ersetzten. Meiner fundierten Kenntnisse wegen wurde auch ich in dieses Projekt miteinbezogen, welches sich mehr oder weniger über zwei Jahre erstreckte, von 1987 bis 1989. In dieser Zeit konnte ich erfahren, wie wichtig es war, dass auch die Programmierer, die mit der Entwicklung des neuen Systems betraut wurden, wenigstens Grundkenntnisse bezüglich der Braille-Syntax haben. Es ging nämlich darum, spezifische Algorithmen zur bestmöglichen Umsetzung der Schwarzschriftsyntax in die Braille-Syntax zu kreieren.

Aber in einem bestimmten Moment kam man mit dem Projekt nicht mehr weiter. Bei der Leitung kam allmählich der Standpunkt zum tragen, dass die Schreibkraft des in den Computer einzugebenden Textes möglichst wenig von Punktschrift zu verstehen bräuchte. So fiele es leichter, Schreibkräfte zu finden. Es zeigte sich jedoch immer offensichtlicher, dass die Unterschiede zwischen Schwarz- und Punktschrift zu erheblich sind, als dass sich die Umwandlung völlig automatisieren liesse. Es gab im Produktionsprozess noch vieles von Hand zu kontrollieren und zu korrigieren. Aus verschiedenen Gründen wurde das Projekt nie fertigentwickelt. Dies war vor allem auf das neue Personal in der Bibliotheksleitung zurückzuführen.

Diese neue Leitung "entdeckte" ein ganz neues System, das man an der Technischen Universität von Leuven in Belgien entwickelt hatte. Hierbei handelte es sich um eine ganze Einheit, bestehend aus einem grossen, schnellen Braille-Printer für Massenproduktion in Kombination mit einem speziell entwickelten Textverarbeitungsprogramm. Das Programm namens PC-Braille wandelte bereits während der Texteingabe möglichst viel automatisch in punktschriftgerechte Syntax um. Das Programm verfügte auch über eine sehr effiziente Worttrennung. Ausserdem war es in einer speziellen Option möglich, die Computertastatur als Punktschriftmaschinentasten zu bedienen. Mit dieser "Punktschrifttastatur" konnte man folglich wunderbar Musiknoten übertragen oder auch komplizierte Mathematik. Eine sehende Schreibkraft, welche die Punktschrift beherrschte, konnte mittels Punktdarstellung auf dem Bildschirm direkt das Ergebnis kontrollieren.

Zu jener Zeit begann man auch zwecks Zusammenarbeit gemeinsame Normen einzuführen. Von da an konnte die Bibliothek in Nijmegen die fertigen Druckfiles der Lehrmittel- und Fachbibliothek in Amsterdam liefern, welche ihrerseits den Ausdruck besorgte.

Trotzdem verschlechterte sich die Situation im Laufe der 90er Jahre für die Braille-AnwenderInnen in den Niederlanden zusehends. Aus verschiedenen Gründen ging es mit der Qualität der Punktschriftdrucke bergab. (Vermehrtes Sparen bei der öffentlichen Hand, Übernahme wichtiger Funktionen im Punktdruck durch Leute mit bloss kommerziellen Interessen, welche sich keinen Deut um die Anliegen von Behinderten kümmerten.) Die routinierteren PunktschriftleserInnen unter uns erinnern sich womöglich noch an die vergangenen Zeiten: wie man damals möglichst fehlerlose und sorgfältig gestaltete Braille-Drucke anstrebte. Aber je mehr man das Braillen computerisierte, umso unwichtiger wurden den Produzenten die ebenerwähnten Kriterien. Gemäss mir zu Ohren gekommener Informationen, begann die Lehrmittel- und Fachbibliothek mehr und mehr die Art und Weise der Punktschriftherstellung sowie die dabei zu verwendenden Mittel zu "diktieren". Das Aufkommen von Scannern Trug zu einer wesentlichen Beschleunigung der Produktion bei. Aber die Kehrseite der Medaille bestand darin, dass man immer mehr die Schwarzschrift nachzuahmen begann, wobei die Spezifika der Braille-Schrift immer weniger Berücksichtigung fanden. Die rapide wachsende Verbreitung der Braille-Zeile schien den massgebenden Köpfen Rechtfertigung genug, die Schwarzschriftliche Darstellungsweise nachzuahmen. Der geneigte Punktschriftleser kann diese Tendenz auch gut bei Zeitschriften beobachten. Völlig ohne jegliche vorherige Umfrage, ohne mit der Leserschaft auch nur zu diskutieren, änderte man plötzlich Braille-Zeichen (u.a. Anführungszeichen und Klammern). Majuskelzeichen werden in Zeitschriften überhaupt keine verwendet, was da und dort zu Lesefehlern führt, beispielsweise bei speziellen Abkürzungen, die im Schwarzschriftoriginal ohne Punkte zwischen den einzelnen Buchstaben geschrieben wurden.

Meiner Ansicht nach ist diese von mir eben skizzierte Situation für uns papierlesende Braille-Anwender unvorteilhaft. In den Niederlanden bestand ja eine gute Normierung für die Vollschrift, die beim Lesen kaum zu Missverständnissen führte. aus den Druckereien verschwunden ist viel spezifische Kenntnis über die Blindenschrift, was die Bibliotheken übrigens zugeben. Deshalb sind sie nicht oder kaum mehr in der Lage, spezielle Fachliteratur zu übertragen (mathematische Werke, Bücher mit z.B. (alt)griechischen Fragmenten oder Musiknoten). Aber die Bibliotheken argumentieren, dass derlei Bücher von den Studenten immer öfter mit Hilfe von Scanner und Braille-Zeile am Computer gelesen würden.

So stellte sich die Situation dar, als ich meine Braille-Setzerlaufbahn im Mai 1995 aufgeben musste. Zwischen 1992 und 1995 arbeitete ich als Punktdrucker bei der Sozialen Arbeitsstelle von Nijmegen, also nicht mehr für Le Sage ten Broek. Die Bibliothek beauftragte jedoch ihrerseits die Punktschriftabteilung der sozialen Arbeitsstelle mit der Übertragung von Lehrmitteln und Fachbüchern. Im Mai 1995 schloss man jedoch diese Punktschriftabteilung an der sozialen Arbeitsstelle. Später, anfangs 1996 hörte ich, dass man im Begriff sei, auch die Punktschriftproduktion bei Le Sage ten Broek aufzuheben. Die Punktschriftübertragung, oder besser ausgedrückt, das Einscannen von Unterichtsbüchern wurde in Nijmegen völlig aufgegeben. Wahrscheinlich kümmert sich bloss noch eine Handvoll freiwilliger Mitarbeiter um den bibliothekseigenen Bestand an Braille-Büchern. Hierüber habe ich jedoch keine aktuellen Informationen.

Was die spezifische Punktschriftnormierung betrifft kann ich noch anfügen, dass die einzelnen Produktionsstätten im Laufe der Jahre über (oft in eigener Initiative hergestellte) Handbücher und/oder Instruktionsmanuals verfügten. Aber wegen der fehlenden Zusammenarbeit ist kein einziges gemeinsames Handbuch erschienen, dass alle Punktschriftverlage als Richtschnur benutzen könnten. Ausserdem war es oft so, dass zusammen mit neuen Führungskräften auch immer gleich "revidierte Ausgaben" der gerade geltenden Normencodices eingeführt wurden.

Wie werden also die Braille-Anwendung und die Punktschrift selber in den kommenden Jahren und Jahrzehnten aussehen? Es ist schwierig, dies richtig vorauszusagen. Dies hängt sehr von den bereits geschehenden und sich noch ereignenden technischen Entwicklungen ab. Es ist ja offensichtlich, dass die Zahl der geschickten Braille-LeserInnen stetig abnimmt. Die Mehrzahl der Sehbehinderten in den Niederlanden ist bereits mehr oder weniger betagt. Auch in den Niederlanden besteht eine starke Tendenz, sehgeschädigte Kinder in normalen Schulen zu integrieren. die Bedeutung spezieller Blindeninstitute nimmt ab, und parallel damit auch die Notwendigkeit, die Braille-Schrift zu beherrschen. Der Einfluss der Sehgeschädigten auf die Gestaltung der Blindenschrift ist im Laufe der Jahre vollends verschwunden. In den massgebenden Kreisen des Punktdrucks ist man allgemein der Ansicht, die Braille-Schrift habe bloss eine Schwarzschriftvorlage möglichst getreu zu kopieren. Ein starkes Bedürfnis nach Normierung auf nationaler Ebene ist bei diesen Leuten also kaum vorhanden. Unter ihnen äussern sich einige bereits dahingehend, die Braille-Schrift habe ihre Blütezeit gar schon hinter sich; sie würde in zehn Jahren oder auch etwas mehr wahrscheinlich völlig verschwinden. Dies mag meines Erachtens für die professionellen Punktschriftproduzenten gelten, aber nicht für die privaten Anwender. Es gibt noch hunderte von Braille-NutzerInnen in meiner Generation und sogar jüngere, die, wenn es ihr Handicap erfordert, die Punktschrift so lange wie möglich gebrauchen werden, was häufig mit lebenslang gleichzusetzen ist. Das gilt nicht nur für das Braille-Alphabet, sondern auch für die Musiknoten- und die Mathematikschrift, Gebiete, über deren Normierung noch viel gesagt werden könnte. Aber dies würde den Rahmen dieses Referates sprengen. Diese Themen bedürften eines oder mehrerer Extrakongresse.

... Obiges Referat erhebt keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit. Ich schöpfte nur aus meinen Erfahrungen, die ich in neun Jahren als Braillesetzer sammeln konnte. Ich habe hier nicht über internationale Normierung gesprochen, da ich nur auf nationaler Ebene tätig war, ausser dass ich mich während 5 Jahren der Herausgabe der internationalen Blindenzeitschrift "Esperanta Ligilo" gewidmet habe. Aber die Esperanto-Blindenschrift ist international bestens geregelt.

In den Niederlanden hält man die Punktschrift, mindestens was offizielle Kreise betrifft, für zunehmend unbedeutend. Dies gilt wahrscheinlich nicht bloss für die Niederlande, sondern auch für mehrere andere Staaten. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und erwarte nun gerne Ihre Fragen und/oder Bemerkungen.

Übersetzung: Martin Meyer

 

Zurück zum Seitenanfang
Zurück zur Seminar-Übersicht
Zurück zur Hauptseite www.braille.ch


Birger Viggen:
Präsentation und Gestaltung von Braille-Publikationen

Gezielte Seitengestaltung ist im Braille-Druck ein fast gänzlich unbekannter Begriff. Auch das bewusste Gestalten, punktdruckgerechte Design von Braille-Publikationen wird kaum praktiziert. Natürlich liegt dies einmal an den begrenzten möglichkeiten: z.B. Grösse und Form der Braille-Buchstaben sind gegeben. Es lohnt sich allerdings die Frage, ob in dieser Hinsicht wirklich keine Entwicklung mehr drinläge.

Als es noch einen eigentlichen Beruf Punktdrucksetzer gab, nahm man sich für ästhetische Gestaltung noch Zeit. Jedenfalls in der Druckerei des HTH, in welcher ich selber anfangs der 50er Jahre arbeitete, produzierte man Braille-Drucke in verschiedenen Formaten, man schmückte die Titelseiten mit den trotz aller Einschränkungen doch noch zur Verfügung stehenden Mitteln. (Ich verweise auf mitgebrachtes Anschauungsmaterial.)

Zur Vermeidung sogenannter Fehl-, bzw. Fastleerzeilen wechselten wir die Zahnstange der Punziermaschine, sodass die leicht verdichteten Zeilen zwei bis 3 zusätzliche Zeichen aufnehmen konnten.

Ich hatte damals Gelegenheit, Punktdruckerzeugnisse aus vielen Ländern zu betrachten: Die meisten Druckereien benutzten ein Grossformat, ganz gleich ob für Bücher oder für Zeitschriften. Eine besondere Ausnahme bildete in dieser Hinsicht die kleine Zeitschrift aus der Schweiz - hiess sie nicht "Le Louis Braille"?

In den gerade vergangenen Jahrzehnten hat man den Braille-Druck automatisiert. Fort sind die sog. Punzierer, welche mit einfachen Handmaschinen die Zinkplatten vollschrieben. Jetzt kodiert man eine Diskette. Diese Diskette steuert dann je nach Auflage einen Punktschriftdrucker oder die Punziermaschine. Heutzutage werden viele Zeitschriften multimedial herausgegeben: Sie erscheinen gleichzeitig in Braille, Grossdruck und auf Kassetten. Das normale Vorgehen besteht gewöhnlich im Redigieren und Einrichten der Schwarzdruckausgabe; danach drückt man ein paar Knöpfe, und schwups: schon steht der ganze Text fix und fertig auf Braille-Papier. Er steht zwar da, aber ausser bezüglich Zeilenlänge gar nicht braille-gerecht seitenarrangiert. Diese Arbeit läuft derart wunderbar automatisiert ab, dass sie von "Sehenden" übernommen werden kann, die womöglich selber die Braille-Schrift nicht einmal beherrschen. Soviel zur technischen Entwicklung.

Wir Braille-Leser/innen sind mittlerweile bescheiden geworden: Hauptsache, wir erhalten Text in einer für uns lesbaren Form. Wir begnügen uns mit zügiger Bereitstellung des Materials. Ästhetische Angelegenheiten - falls wir überhaupt je an so etwas denken - betrachten wir als reinen Luxus. Wir jammern zwar über schwere, klobige Bände, aber bemerken dazu höchstens, die Punktschrift sei halt nun einmal Platzraubend. Dieses unnötige Grossformat stellt jedoch eine echte Bedrohung der Leselust dar. Das umständliche hantieren mit Braille-Büchern und -zeitschriften, der Platzbedarf zu Hause, all dies bewirkt, dass man auf Braille verzichtet.

Weil sog. Bleiwüsten das Auge ermüden, gliedert man Text durch Untertitel umgeben von genügend Freiraum. Um Neugierde zu wecken, weist man durch entsprechende Lead-Texte, welche man später zumeist wortwörtlich wiederfindet, auf den Inhalt eines Artikels hin. Jedenfalls der grösste Teil einer Tageszeitung erreicht ungelesen den Mülleimer. Also, welchen Wert haben derlei Texte für die Punktschriftleser/innen? Finde ich einen langen Text ohne Absatzgliederung, regt das vielleicht nicht gerade zum lesen an; aber Untertitel, die jedes Mal mindestens zwei Zeilen vergeuden, lassen mich nur den verschwendeten Platz bereuen.

Von der sog. Fehlzeile habe ich bereits gesprochen. Wie oft findet man doch Zeilen mit nur zwei oder drei Zeichen! Um dies zu vermeiden, begann man schon sehr früh mit einer, wie ich es nennen möchte, fortlaufenden Schreibweise: Ein neuer Abschnitt begann nach zwei oder drei Leerschlägen in derselben Zeile. Der neue Absatz wurde dann durch Einrücken um zwei Felder bei der nächsten Zeile markiert. Dieses Vorgehen scheint nirgends mehr üblich zu sein; das Argument: In der Normalschrift macht man das auch nicht. Heutzutage hört man häufig den Satz, die Regeln der Braille-Schrift hätten sich möglichst der "Schwarzschrift" anzugleichen. Ja natürlich, solange man dies kann, ohne auf die spezifischen Erfordernisse der Braille-Schrift verzichten zu müssen. So wie sich die "Schwarzschrift" nach den Bedürfnissen des Auges richtet, hat sich die Punktschrift den Bedingungen des lesenden Fingers anzupassen, wobei auch in besonderer Weise dem Problem des relativ grossen Platzbedarfs Rechnung zu tragen ist. Es liegt mir sehr daran zu betonen, dass es sich bei der Braille-Schrift nicht etwa bloss um einen Code zum Kennenlernen der "Schwarzschrift" handelt, sondern um eine gleichberechtigte Schriftart sui generis.

Ein kleines Gedichtbändchen ziehe ich in Kleinformat vor, so dass man es leicht mitnehmen kann, etwa im Koffer auf der Reise. Weil jedoch eine Gedichtesammlung in Schwarzdruck üblicherweise durch viel unbeschriebenes Papier gekennzeichnet ist, enthält der entsprechende Punktschriftwälzer oft gleich viel beschriebene wie "glatte" Fläche.

Bereits in der Frühzeit der Punktschrift versuchte man, sie vermittels eines Kürzungssystems zu verdichten; aber dieses Thema lasse ich jetzt unberücksichtigt.

In den letzten 10 Jahren begann man mit dem doppelten Seitennummerieren: also links und rechts. In einem 60-seitigen Heft vergeudet man so eine ganze Seite.

Die handlichkeit von Braille-Publikationen ist das erste und wichtigste Kriterium bei ihrem Design. Ein weiterer Punkt betrifft das Ausschmücken und Illustrieren. Ich habe einige Muster mittels Braille-Relief gestalteter Titelseiten mitgebracht. Heutzutage verfügen wir noch über weitere Möglichkeiten, wofür ich gleichfalls Anschauungsmaterial vorzeigen kann. Durch Kunstfoliendruck gelingt quasi eine dreidimensionale Wiedergabe; wobei jedoch das Problem besteht, dass vor allem wir Früherblindeten die Fähigkeit der Bildinterpretation nicht entwickelt haben. Das ist aber auch Übungssache und die jetzt lebende Kindergeneration wird sich bestimmt an Illustrationen und Zeichnungen gewöhnen.

Verschiedene Punktschrifterzeugnisse nur am äusseren Erscheinungsbild zu erkennen, ohne die Titelseite gelesen zu haben, ist kaum möglich; ja, vielleicht erkennt man die Druckerei.

Es ist zu fordern, dass wieder die Braille-Leser/innen selber das Zepter in der Punktschriftproduktion führen. Diese Stellung haben wir in unserem modernen Technikzeitalter eingebüsst.

Kommen wir zum Schluss. Von einem schön verzierten und gebundenen Buch pflegt man zu sagen, es erfreue nicht bloss Geist und Seele, sondern auch das Auge. Weshalb also sollte ein Braille-Buch nicht auch ein taktiler Genuss für die Hand sein dürfen?

Übersetzung: Martin Meyer

 

Zurück zum Seitenanfang
Zurück zur Seminar-Übersicht
Zurück zur Hauptseite www.braille.ch


Otto Prytz:
Die Braille-Schrift: ein Anachronismus in einer Zeit des technischen Fortschritts?

Auch wenn es in diesem Vortrag um die Stellung der Braille-Schrift in unserer modernen Welt geht, ist es keineswegs überflüssig, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, um sich zu vergegenwärtigen, in welchem Umfeld die Punktschrift entstand und welche historische Bedeutung diesem Ereignis zukommt.

Das Braille-System, das seinen Namen nach dessen Erfinder Louis Braille erhielt, datiert von 1825. In der französischen Blindenschule, wo Braille damals unterrichtet wurde, benutzte man Bücher mit "gewöhnlichen" Buchstaben in Relief. Man erachtete es als wichtig, dass die Blinden die normale Schrift lesen und schreiben lernten. Aber um die normale Schrift zu lesen, benötigten sie speziell für sie hergestelltes Material; und obwohl sie mit Bleistift schreiben lernten, konnten sie nicht ohne Hilfe miteinander schriftlich verkehren, da sie über keine technischen Geräte zum Lesen des selber Geschriebenen verfügten.

Als Louis Braille seine Erfindung unter seine Mitschüler brachte, reagierten die Lehrer missbilligend und mit Abscheu, also ganz ähnlich wie die Gehörlosenlehrer, die ihren Schülern die Zeichensprache selbst unter sich verbieten wollten. Inzwischen wissen wir, dass die Braille-Schrift unter den Blinden ihren Siegeszug nahm, so wie auch die Zeichensprachen unter den Gehörlosen, und dies trotz Widerstand der Lehrer. Beim Nachdenken über diese Verhältnisse könnten wir nur allzu voreilig den Schluss ziehen, jene veralteten Einstellungen hätten wir heute längst überwunden. Aber aufgepasst: Wäre heutzutage nicht auch ähnliches Verhalten vorstellbar, bloss in anderer Verpackung? Würde die Ansicht, Punktschrift wirke eher hinderlich beim Bestreben, die Sehbehinderten in die Gesellschaft einzugliedern, sei gar ein segregierender Faktor, würde dies nicht wunderbar zur heutigen Integrationsmode passen? Wo wir doch nun über Techniken verfügen, den Blinden geschriebene Information ohne spezielles Schriftsystem zu vermitteln, Könnten wir da die Braille-Schrift heutzutage nicht gleich "abschaffen"?

Die Braille-Schrift bedeutete ein Fortschritt im Vergleich mit der Verwendung von Reliefbuchstaben. Mit dem Tastsinn lassen sich Einzelheiten lange nicht so genau wahrnehmen wie mit dem Auge. ... So unterscheidet sich ein kleines h mit Serifen und kleiner Öffnung unten für den fühlenden Finger nur schwer von einem kleinen b ohne untere Öffnung. Damit die Buchstaben von blinden Personen entziffert werden können, muss man sie erheblich vergrössern; Dementsprechend waren die zur Zeit von Louis Braille gebräuchlichen Reliefbücher höchst sperrig. In der Braille-Schrift beansprucht jeder Buchstabe gleichviel Raum, und um sie zu entziffern hat man nur eines zu beachten: An welchen Stellen im Buchstabenfeld befinden sich Punkte und wo gibt es keine. Der Finger muss nicht innehalten, um nach anderweitigen Einzelheiten Ausschau zu halten; also wird das Lesen viel rascher als mit Reliefbuchstaben. Die Punktschrift benötigt viel mehr Raum als normale Schrift für die Sehenden, aber auch viel weniger als die gewöhnliche Reliefschrift für Blinde.

Schauen wir nun, welche Rolle die Braille-Schrift spielte, bevor die Entwicklung der Technik ihr die dominierende Stellung unter den für Blinde zugänglichen Kommunikationsmittel streitig machte. Die Tatsache, dass die Punktschrift erst 1825 erfunden wurde, bedeutet nicht, dass die Blinden vorher keinen Zugang zur Literatur gehabt hätten. Die Bedeutung, welche Nichtsehende als "Produzenten" von Literatur spielten, ist sehr wohl bekannt. Vielleicht weniger im Bewusstsein ist uns die Tatsache, dass es auch Blinde als "Konsumenten" von Literatur gab. Ein Zeugnis hierfür finden wir u.a. in einer "Anmerkung für den Leser", welche einem der berühmtesten spanischen Schelmenromane vorangestellt ist: In der Einleitung zur 1626 erschienenen "Geschichte und Leben eines Opportunisten" von Francisco de Quevedo richtet sich der Autor an "den Leser oder Hörer, weil die Blinden nicht lesen können".

Das grösste Verdienst der Punktschrift bestand also nicht darin, den Nichtsehenden ein ihnen zuvor verschlossenes Gebiet eröffnet zu haben. Zweifellos erweiterte sie jedoch ihren Zugang zur Literatur und zu übrigen Ausdrucksformen der Schriftkultur. Dies geschah in zweierlei Hinsicht: Einerseits erschloss die Braille-Schrift den blinden Menschen viele weitere Werke der Literatur über das hinaus, was mehr oder weniger gewillte Familienangehörige ihnen vorzulesen bereit waren; andererseits konnte die Braille-Schrift auch den vielen Sehgeschädigten Literatur vermitteln, die nicht das Privileg hatten, über eine Vorlesekraft in ihrer Umgebung zu Verfügen.

Indem ich diese beiden Seiten der Braille-Schrift als Bildungsfaktor festhalte, ist gleichzeitig die Tatsache anvisiert, dass blinde Menschen vor Einführung der Punktschrift von anderen abhängig waren. Ich glaube, das grösste Verdienst der Punktschrift besteht in ihrer Rolle als "Verselbständiger" der Blinden. Indem wir ohne fremde Vermittlung lesen konnten, wurden wir als Konsumenten schriftlicher Kultur unabhängig. Mit anderen Worten: Die Braille-Schrift erhob die Blinden über den Analphabetismus.

Die aktive und unabhängige Beherrschung einer Schriftsprache bringt gewöhnlich kaum beachtete Vorteile mit sich, über welche nachzudenken sich aber hin und wieder lohnt. So kommt mir beispielsweise eine Idee, die ich keinesfalls wieder vergessen möchte. Meinem Gedächtnis traue ich jedoch nicht, noch möchte ich meine Idee mit einer anderen Person teilen, die vielleicht über ein besseres Gedächtnis verfügt. Dann "notiere" ich sie mir eben, wissend, dass ich sie wann auch immer ins Gedächtnis zurückrufen kann, ohne von jemandem abhängig zu sein.

Sehr wichtig ist also die Unabhängigkeit, welche die Blindenschrift den Sehgeschädigten auf individueller Ebene gewährte: Jede betroffene Person konnte so eigenhändig (wortwörtlich genommen) Kulturinhalte konsumieren und eigene Aufzeichnungen handhaben. Ich neige jedoch zur Ansicht, dass die Bedeutung der Blindenschrift als kollektives Mittel zur Unabhängigkeit noch stärker hervorzuheben ist. Die Braille-Schrift ermöglichte es den Blinden zum ersten Mal, miteinander schriftlich zu verkehren, unmittelbar und auch über Entfernungen. Gerade diese so gewährte Unabhängigkeit war ein wesentlicher Faktor in der Entwicklung des Blindenwesens. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass ohne die Blindenschrift keine Blindenselbsthilfevereinigung entstanden wäre. Und ohne Organisationen als eigenständiges Sprachrohr unserer Forderungen würden wir heute nicht in so weitreichendem Masse am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Ein norwegisches Sprichwort sagt: Es weiss derjenige am besten, wo der Schuh drückt, der ihn trägt.

Aber wenn die Blindenschrift auch zu ihrer Zeit unabdingbare Voraussetzung für Unabhängigkeit und Bewusstwerdung der Blinden gewesen sein mag, könnten wir sie denn heute nicht entbehren, wo es doch möglich geworden ist, nicht bloss schriftliche, sondern auch mündliche Informationen zu speichern, wo schriftliche Information auch papierlos aufbewahrt werden kann?

Ich glaube, diese Frage wurde zum ersten Mal bei der Einführung des Hörbuchs gestellt. Anfänglich nahm man die Bücher auf Schallplatten auf, und der Leser konnte sich nur das aufgezeichnete Material anhören, jedoch nicht selber aufnehmen. Diese Situation ähnelt in gewissem Masse den Verhältnissen in der Schule Brailles, wo die Kinder speziell für sie produzierte Bücher lasen, selber jedoch derlei Material nicht herstellen konnten.

Aber nachher kam für das Hörbuch das Tonbandgerät auf, und damit verfügten wir Nichtsehenden über ein Informationsmedium, welches wir aktiv und unabhängig nutzen konnten. Das Tonband wurde in der Korrespondenz unter Sehbehinderten gebräuchlich, die früher hauptsächlich in Punktschrift erfolgte. Im Vergleich mit der Punktschrift bringt das Tonband zwei Vorteile: Einmal beansprucht es weniger Raum; zum anderen stellt es ein Medium dar, welches auch unter den Sehenden Verbreitung fand: Eine blinde Person kann also damit genauso mit ihresgleichen wie mit Sehenden korrespondieren.

Das Band hat jedoch auch einen gewichtigen Nachteil gegenüber dem Papier: Eben gerade, dass es sich um ein Band handelt. Geometrisch gesprochen lässt sich ein Band als Linie, also als etwas Eindimensionales bezeichnen. Hingegen verfügt Papier über zwei Dimensionen: Länge und Breite; und im Zusammenfügen mehrerer Papierbögen entsteht ein Buch, sodass in gewisser Weise auch noch die Höhendimension dazukommt. In einem Buch orientiert man sich ohne technische Apparaturen; indem er es öffnet hat der Leser sogleich unmittelbaren Zugriff auf ein recht weites Feld, nämlich zwei Seiten. Die Orientierung auf einem Band ist hingegen wesentlich müh- und auch langsamer. Selbst die schnellsten Tonbandgeräte benötigen einige Zeit, um ein Band von einer Seite zur anderen umzuspulen, viel länger als ein Leser braucht, um von der ersten zur letzten Seite eines Buches zu springen. Beim Einschalten der Abspielfunktion am Tonbandgerät - was mit dem Öffnen eines Buches vergleichbar ist - erscheint die unmittelbare Zugriffseinheit sozusagen nur als Punkt auf der Linie. Man bekommt auch Zugang zur Abfolge der benachbarten Punkte in der Laufrichtung des Bandes, aber dieser Zugang ist nicht unmittelbar. Dieser Nachteil lässt sich durch verschiedene Techniken mindern, jedoch nicht gänzlich beseitigen; etwa mittels beim Spulen hörbarer Tonsignale oder akustisch indexierter Spuren, vielspuriger Bänder usw. Dennoch bleibt der Nachteil derart gewichtig, dass das Tonband die Punktschrift nicht eliminierte. Das Tonband eignet sich für fortlaufend gelesene Texte, bei denen es hauptsächlich auf den Inhalt ankommt. Sobald jedoch auch auf Präsentation oder Gliederung des Materials Wert gelegt wird, oder wenn es sich um ein Nachschlagewerk handelt, worin man blättern können muss, ist die Punktschrift geeigneter.

Während das Tonband Tonfall, Pausen, Akzentuierungen und andere typische Merkmale des gesprochenen Wortes aufzeichnet, fehlen gewöhnlich die der Schriftsprache eigentümlichen Charakteristiken wie Interpunktion, Orthographie von Eigennamen usw. In den derart schriftbetonten Gesellschaften der modernen Welt müssen auch wir Sehbehinderten in der Lage sein, uns schriftlich an Sehende zu wenden, wenngleich wir das Geschriebene selber nicht kontrollieren können. Um jedoch die aktive Schreibfähigkeit lebendig zu erhalten, ist auch der "passive" Kontakt zur geschriebenen Sprache, also das Lesen geschriebener Inhalte von Bedeutung. Andernfalls würden wir in Analphabetismus zurückfallen.

Am besten wäre es , auch die Nichtsehenden hätten unmittelbaren Zugang zu Texten in normaler Schrift; und es wurden viele Versuche unternommen, eine Lesemaschine zu erfinden. Die verbreitetste Entwicklung auf diesem Gebiet ist das Optacon, eine Erfindung aus den 70er Jahren. ... (Anmerkung des Übersetzers: Die Erklärungen zum Optacon wurden nicht übersetzt, da als bekannt vorausgesetzt)

Der grosse Vorteil des Optacons besteht darin, dass das auf dem Papier Stehende prinzipiell direkt in der Weise gelesen werden kann, wie es sich darstellt, ohne die Notwendigkeit der Transformierung in ein anderes System. Aber... Denn das "Aber" gibt es natürlich. Die Zeichenerkennung gestaltet sich gleich schwer oder gar noch schwieriger als beim Lesen von Reliefbuchstaben: Alle Finger können beim Erfassen von Reliefbuchstaben mitwirken, während beim Lesen von Buchstaben mit dem Optacon nur der linke Zeigefinger etwas fühlt, wenngleich auch die rechte Hand bei der Erkennung durch Bewegungen der Kamera mitwirkt. In der Praxis sind mittels Optacon nur Texte mit nicht verbundenen Buchstaben, also Gedrucktes und Maschinengeschriebenes lesbar, jedoch keine Handschrift. Eine technische Einschränkung des Optacons liegt in der Tatsache, dass es schwarzen Text auf weissem Hintergrund wahrnimmt, und umgekehrt; rote Schrift erscheint weniger deutlich, und roter Text auf rotem Hintergrund wird überhaupt nicht registriert.

Um meine eigenen Erfahrungen zusammenfassend weiterzugeben: das Lesen mit dem Optacon ist langsam. Der Apparat taugt zum lesen kurzer Texte, zum identifizieren von Post, um etwas zu lesen, was man keiner anderen Person anvertrauen will, z.B. Kontoauszüge; daneben macht sich das Optacon auf einem Gebiet nützlich, dem man zu wenig Beachtung schenkt, das jedoch Aufmerksamkeit verdient: z.B. beim Kontrollieren selbstgetippter Schreibmaschinentexte. Ein bekannter Test erfordert ja nicht soviel "Erraten", wie ein unbekannter Text; dementsprechend erfolgt das Lesen eines derartigen Textes schneller.

Die letzte grosse Errungenschaft zur Informationsbeschaffung für Sehbehinderte ist der Computer. Die materiell auf Computerfestplatte gespeicherte Information ist weder Schrift noch gesprochenes Wort, sondern binäre Einser und Nullen. Prinzipiell kann die Information in derjenigen Form ausgegeben werden, die vom Benutzer gewünscht wird. als gewöhnliche Buchstaben auf dem Bildschirm oder auf Papier, als Braille-Buchstaben auf dem "Braille-Bildschirm", der Braille-Zeile, Papierausdruck oder als synthetische Sprache. Dieser Flexibilität ist es zu verdanken, dass Blinde und Sehende in sehr direkter Weise sogar gemeinsam an der Redaktion desselben Textes arbeiten können.

Textverarbeitung ist ein Begriff, der zusammen mit der Informatik zum Allgemeingut geworden ist. Aber eigentlich praktizierten die Sehenden Textverarbeitung schon lange vor der Informatik. Der typische Entwurf hat einen genügend breiten linken Rand für Anmerkungen und Pfeile zur Markierung von Umstellungen; und will man etwas streichen, benutzt man den stets griffbereiten Gummi. Derlei Hantierungen sind auf einem Braille-Schriftentwurf nicht leicht auszuführen. Ein Braille-Zeichen kann man streichen (überpunkten) und die Punkte kann man sogar wegkratzen, jedoch nicht völlig zum Verschwinden bringen, denn die Löcher bleiben für immer im Papier. Man kann sagen, mit dem Computer konnten die Blinden erstmals den Gummi benutzen.

Die Orientierung in einem Computertext ist angeblich sehr schnell und höchst einfach. Das stimmt, vorausgesetzt, der Leser weiss, was er sucht. So ist es z.B. viel bequemer, in einem CD-Rom-Wörterbuch als in einem 10-bändigen Braille-Dictionnaire zu suchen. Ab und zu kommt es jedoch vor, dass wir keine bestimmte Textstelle suchen möchten, sondern einfach einen generellen Eindruck vom Text gewinnen wollen, wie wir ihn beim raschen Durchblättern eines Buches erhalten. Ich will vielleicht wissen, in wie grosse Teile das vorliegende Werk aufgeteilt ist, ob es sich um einen kompakten Text handelt oder ob erklärende Beispiele, Skizzen und Tabellen darin enthalten sind. In diesem Fall nützen mir die speziellen Vorzüge des Computers nicht mehr besonders viel

Haben sehende einen Computertext vor sich, umfasst der unmittelbar wahrgenommene Bereich keine zwei Seiten, wie in einem Buch, sondern eine Bildschirmseite. Die Grösse des Wahrnehmungsfeldes für Sehbehinderte am Computer hängt von der Art der Informationsausgabe ab. Wird Sprachsynthese benutzt, so entspricht das "überblickte Feld" demjenigen des Tonbandes. Auf Papier ausgedruckt, entspricht das Feld einer Braille-Seite. Wird der Text als papierlose Braille-Schrift ausgegeben, erlaubt die bisher erreichte technische Entwicklung die Zeilenweise Darstellung. Man mag hinzufügen, dass Braille-Zeilen existieren, welche in der Lage sind, den ganzen Bildschirmumriss anzuzeigen, wobei man durch Knopfdruck, also mittelbar, zu jeder Bildschirmzeile gelangen kann. Dennoch benötigt die sehbehinderte Person mit diesen Knöpfen und ihrem Tastsinn viel länger, um eine Bildschirmseite "anzuschauen", als der Sehende mit einem einzigen Blick. Auch die "Durchsicht" einer Punktschriftseite ist schneller, verglichen mit der entsprechenden Textmenge am Computer.

Seltsamerweise bedeutet die Informatik eine Annäherung an die Prinzipien, auf denen das Braille-System gründet. Der Raum für ein Braille-Zeichen besteht aus einer Form mit 6 Stellen, die jeweils mit einem oder keinem Punkt versehen sind. Dies entspricht genau einem 6-bit-Zeichen in der Informatik: Ein Punkt kann mit einer binären Eins, das Fehlen davon mit der Null verglichen werden. Erweitert man das Punktefeld um 2 Stellen, erhält man die genaue Entsprechung des bei Computern heutzutage üblichen (oder etwa bereits wieder überholten?) 8-bit-Codes: es lassen sich eindeutige Braille-Darstellungen aller 256 Zeichen des 8-Bit-Codes bestimmen. So kann man sagen, die Braille-Schrift eigne sich sogar besser zur Darstellung der computergespeicherten Zeichen als die Normalschrift. Eine wichtige Schwierigkeit besteht freilich: Wenngleich der Computercode nicht mehr als 256 Kombinationen erlaubt, ist die Zeichenzahl auf dem Papier theoretisch unbegrenzt, denn mittels spezieller Codes kann erreicht werden, dass dieselbe Bitkombination unterschiedliche Zeichen auf dem Papier hervorbringt.

Der grosse Unterschied zwischen der Punkt- und der Normalschrift besteht darin, dass erstere im mathematischen Sinne als finites, also begrenztes System zu bezeichnen ist, während in der Schwarzschrift theoretisch beliebig viele neue Symbole hinzugefügt werden können: Denken Sie zum Beispiel nur einmal an die chinesischen Ideogramme. In der Praxis erwies sich die Braille-Schrift jedoch als höchst vielseitig einsetzbar, denn dasselbe Zeichen hat mehrere Bedeutungen, je nach Zusammenhang, in dem es erscheint; dies verursacht den Punktschriftanwendern im allgemeinen keinerlei Probleme. Als Beispiel sei das Braille-Zeichen erwähnt, welches je nach dem den Buchstaben d, die Ziffer 4 oder die Achtelnote c in der Musik darstellt.

Als sich der Computer allgemein durchsetzte, sagten viele auch das sog. "papierlose Büro" voraus. Aber was geschah? Noch nie verbrauchte, oder genauer gesagt verschleuderte man derart viel Papier wie heutzutage. Weshalb wohl? Ich vermute hierfür verschiedene Gründe. einer davon besteht darin, dass es die Menschen effizienter oder zumindest angenehmer finden, Korrekturen und Änderungen auf einem ausgedruckten Entwurf vorzunehmen, als dies am Bildschirm zu tun. Das hat wiederum damit zu tun, dass der Bildschirm als Überblicksfeld zu klein scheint.

Es gibt jedoch noch einen anderen aus dem Wesen jeglicher Schrift herzuleitenden Faktor: Die Schrift wurde als unmittelbar sinnlich Wahrzunehmendes erfunden, in erster Linie für das Auge, in besonderen Fällen jedoch auch für andere Sinne: Braille-Schrift für den Tastsinn, das Morsealphabet für das Gehör oder die Augen, je nachdem, ob es sich akustisch oder optisch darstellt. Man erfand immer ausgeklügeltere Techniken, um in effizienter Weise Schrift zu produzieren, aber diese Techniken machten die "primitiveren" Schreibmethoden niemals überflüssig: Weder der Buchdruck noch die Schreibmaschine oder der Computer liessen Bleistift und Notizblock überflüssig werden.

Was den Sehenden der Bleistift das ist den Blinden - oder müsste es sein - die Schreibtafel und der Punktstift. Diese Hilfsmittel sind leicht mitzuführen. Treffe ich auf der Strasse einen Menschen, der mir seine Adresse mitteilen möchte, wäre es unpraktisch, erst die Schreibmaschine oder den Computer auspacken zu müssen, um sie notieren zu können. Dies illustriert einen Nachteil hochentwickelter technischer Geräte: Je ausgeklügelter eine Maschine ist, zu umso mehr Platzbedarf tendiert sie. (Ausnahmen bestätigen die Regel.) Noch Ein anderer nicht weniger schwerwiegender Nachteil: Die Abhängigkeit von Hightech macht und verwundbarer: Wie sollen wir zurechtkommen, wenn die Technik plötzlich ausfällt? Damit will ich keineswegs sagen, wir sollten die Möglichkeiten der Technik nicht nutzen. Im Gegenteil: der Computer scheint mir das perfekte Gerät um einen Text zu redigieren, der auf kleinstem Raum gespeichert werden kann und sich gleichzeitig in Punkt- wie auch in Schwarzschrift darstellen lässt. Aber ich möchte auch noch in der Lage sein zurechtzukommen, wenn gerade einmal kein Computer zur Verfügung steht, wenn der PC "abgestürzt" oder der Strom ausgefallen ist.

Ich komme zum Schluss: Ohne Punktschrift, genauer gesagt ohne auf Papier gedruckte Punktschrift hätte ich dieses Referat nicht halten können. Müsste ich meine Ausführungen auf gesprochene Notizen aufbauen, seien sie nun "natürlich" oder sprachsynthetisch, welche ich während des Vortragens über Kopfhörer abhören müsste, so würde der Sprechfluss verlorengehen. Müsste ich per Optacon lesen, würde der Vortrag sehr, sehr langsam, überdies von einem störenden Summen der vibrierenden Optaconstiftchen begleitet. Hätte ich meine Aufzeichnungen im Computer, so müsste ich mich über die hier bestehenden technischen Möglichkeiten der Computernutzung vergewissern. Und sonst, was bliebe mir ausser der bereits erwähnten unpraktischen Soufflierstimme der Sprachsynthese anderes, als meine Aufzeichnungen mittels Braille-Schrift vorzulesen? Also: Auf die im Titel dieses Vortrages gestellte Frage gebe ich eine Klare Antwort: Die Braille-Schrift stellt keinen Anachronismus dar und wird dies auch nie tun, unabhängig von noch so hohem Grade an je erreichter technischer Entwicklung auf dieser Welt.

Übersetzung: Martin Meyer

 

Zurück zum Seitenanfang
Zurück zur Seminar-Übersicht
Zurück zur Hauptseite www.braille.ch


Rose-Marie Lüthi Schoorens:
Punktschriftförderung durch den Aufbau eines nationalen Netzes von Braillelehrern

Die Mitschüler von Louis Braille haben "ihre" Schrift selber gelernt oder einander gelehrt. Auch in unserem Lande gibt es noch Menschen, die die Brailleschrift allein gelernt haben. Viele Menschen möchten gerne mit den Fingern lesen können. Sie können diese Schrift aber nicht ohne Unterstützung eines Punktschriftlehrers erlernen. Daher haben wir in der Schweiz Teilzeitpunktschriftlehrer ausgebildet und bemühen uns, möglichst alle Regionen abzudecken.

Organisatorisches

Die schweiz. Blindenschriftkommission koordiniert die Bemühungen um die Punktschrift und deren Förderung. Sie tagt zweimal im Jahr und setzt sich aus Mitgliedern aller drei Sprachregionen zusammen.

Die Hauptarbeit wird in den Sprachregionen geleistet, in der Französisch-, italienisch- und deutschsprachigen Schweiz. In den Kommissionen der Sprachregionen arbeiten Vertreter verschiedener Interessenkreise zusammen wie Schulen, Eingliederungsstelle Basel, Eltern, vollamtlich angestellte Punktschriftlehrer für Erwachsene usw. Jede Sprachregion hat ihr eigenes Jahresprogramm.

Ausbildung von Teilzeitpunktschriftlehrern

In der Regel sind unsere Punktschriftlehrer selber sehbehindert oder blind. Wir leben mit unserer Schrift, was die Schüler spüren und was sie ermutigt.

Um Teilzeitpunktschriftlehrer werden zu können, muss der Kandidat/in eine Aufnahmeprüfung bestehen. Der Kandidat zeigt damit, dass er die Punktschrift seiner Muttersprache beherrscht, inkl. in Französisch und Deutsch die Kurzschrift. Dies ist eine grosse Vorleistung, die erbracht werden muss.

Die Prüfung besteht aus:

Die Zeitlimiten sind so angesetzt, dass auch ein Späterblindeter, der seit 2-3 Jahren Punktschrift liest, die Prüfung bestehen kann!

Mitglieder der Punktschriftkommission sind Prüfungsexperten. Die Kommission entscheidet über die Aufnahme eines kandidaten.

Teilzeitpunktschriftlehrerkurs

Der Kurs dauert 10 Unterrichtstage oder 60 Unterrichtsstunden. Die Kandidaten müssen vor dem Kurs eine Einführung zum Unterrichten der Punktschrift lesen und während des Kurses zeigen, dass sie das Gelesene verstanden haben.

Im Kurs erhalten sie theoretischen Unterricht über die Gestaltung des Punktschriftunterrichts, das Unterrichtsmaterial usw. Sie gestalten Punktschriftlektionen, die sie als Uebungen durchführen, erstellen Texte usw.

Einige Wochen nach dem Kurs legen sie eine Prüfung ab. Sie unterrichten je eine Voll- und Kurzschriftlektion bei "echten" Schülern. Sie müssen ihr Wissen über das schweiz. Blindenwesen in einer schriftlichen Prüfung beweisen.

Nach bestandener Prüfung erhalten sie ein Zertifikat für Teilzeitpunktschriftlehrer. Dies berechtigt sie, Punktschriftunterricht zu erteilen und den Tarif dafür zu verrechnen.

Finanzielles

Die Invalidenversicherung übernimmt den Punktschriftunterricht im erwerbsfähigen Alter und finanziert auch eine Punktschriftmaschine. Im Pensionsalter übernimmt die Selbsthilfe den Unterricht. Es können die effektiven Unterrichtsstunden, die Vorbereitungszeit und die Reisezeit abgerechnet werden.

Weiterbildung

Die Punktschriftlehrer sind verpflichtet, an den jährlichen Weiterbildungen teilzunehmen. Wer drei Jahre fehlt, verliert das Zertifikat.

Letztes Jahr beschäftigten wir uns in der deutschen Schweiz mit dem Lernen im Alter. Dieses Jahr stellt die Deutschschweiz das Lesen auf der Braillezeile ins Zentrum der Weiterbildung.

Besonderheiten

Um alle Punktschriftinteressenten erreichen zu können, unterrichten wir dezentral und meistens im Einzelunterricht. Wenn möglich teilen sich Lehrer und Schüler den Anfahrtsweg.

Wir beginnen in der Schweiz den Punktschriftunterricht mit der Schrift Large Cell. Wir sind davon überzeugt, dass die neuen Schüler so rascher einen Lernerfolg haben. Manchmal bleiben die Menschen bei dieser Schrift, die sie in ihrem Alltag einsetzen, um Gewürze, Kassetten, CDs anzuschreiben und sich schriftliche Notizen zu machen, die sie selber wieder lesen können.

Wer in der Lage ist, die Standardgrösse zu lesen, kommt rascher zu flüssigem Lesen. Die SBS hat uns einen Lehrgang in Large Cell in Deutsch und Italienisch gedruckt. Der deutsche Lehrgang ist eine Kopie, den Italienischen hat eine Arbeitsgruppe selber gemacht.

Wir arbeiten im Unterricht mit den bekannten Hilfsmitteln Lesestab und natürlich mit dem Lehrbuch, aber auch oft mit Kärtchen, zusätzlichen Texten in Voll- und Kurzschrift und wir sind unseren Schülern behilflich bei der punktschriftgerechten Gestaltung ihres Lebens, z.b. beim Einrichten von Terminkalendern, Adressenbüchlein usw.

Mitglieder der Punktschriftkommission sind auch als Praxisberater tätig.

Die Punktschriftbibliotheken der SBS und CAB halten einige kurze Geschichten in Large Cell für Uebungszwecke bereit.

Die Bibliotheken gehen auf Lesewünsche ein und bemessen die Ausleihfrist grosszügig.

Die Punktschrift wird in der Schweiz zudem gefördert durch:

Und wir alle, die wir die Punktschrift unter sehenden oder blinden Menschen öffentlich einsetzen, wir fördern unabsichtlich oder auch gezielt den Einsatz unserer Schrift. Es ist doch eine gute Sache, eine Versammlung Dank der Punktschrift souverän leiten zu können.

Louis Braille hat uns eine Schrift geschenkt. Bemühen Sie sich in Ihrem Land um deren Förderung, auch wenn Ihre Bedingungen anders sind als unsere!

Ich wünsche Ihnen die Motivation und das Durchhaltevermögen, dies zu tun.

 

Zurück zum Seitenanfang
Zurück zur Seminar-Übersicht
Zurück zur Hauptseite www.braille.ch


Vivian Aldridge:
Die Vereinheitlichung der englischen Punktschrift

Die amerikanische und die britische Varianten der englischen Punktschrift sind einander sehr ähnlich. Viele betrachten sie als identisch ausser in bezug auf Grossschreibung. Das stimmt nicht ganz, da die Kürzungsregeln ein wenig unterschiedlich sind; dies bereitet den Lesern aber so gut wie kein Problem.

Vor hundert Jahren war die Lage ganz anders. Das erste Braillesystem in den USA war eine Variante des französischen Originalalphabets. In den 60er Jahren des letzen Jahrhunderts entschloss sich jedoch ein gewisser William Bell Wait, das Punktschriftsystem zu rationalisieren. Er erfand das sogenannte New York Point. Die Zeichen waren zwei Punkte hoch und von unterschiedlicher Breite. Die in Englisch häufig vorkommenden Buchstaben wurden mit wenigen Punkten geschrieben, die seltenen mit vielen. Daher sollte dieses System schneller gelesen und geschrieben werden können.

Kurz danach entschloss sich Joel W. Smith aus Boston, der die Überzeugung hegte, dass Zeichen mit drei Punkten in der Höhe und zwei in der Breite leichter lesbar seien, das System Brailles entsprechend abzuändern, damit auch es einige der Vorteile der New York Point aufweisen könnte. Auch er ordnete den häufigst vorkommenden Buchstaben die zeichen mit den wenigsten Punkten zu. Er nannte das System Modified Braille (Abgeänderte Brailleschrift), aber später wurde es as American Braille bezeichnet.

Jetzt mussten Leser drei verschiedene Systeme lernen, um verschiedene Bücher und Zeitschriften lesen zu können. Staatsgelder standen beinahe ausschliesslich New York Point zur Verfügung, was für politische Machtkämpfe sorgte.

1909 veranstaltete der Staat New York öffentliche Hearings, die entscheiden sollten, welches System in den neuen Tagesschulklassen einzusetzen ist. American Braille siegte, hauptsächlich deswegen, dass New York Point über ein umständliches System für die Kennzeichnung von Grossbuchstaben und für Trenn- und Bindestriche, so dass diese kaum verwendet wurden. Seine Gegner behaupteten, dass die Leser die Schwarzschrift nur fehlerhaft schreiben konnten, weil sie von diesen beiden Sachen keine Ahnung hatten.

Andere Leute forderten wissenschaftliche Forschungen, um festzustellen, welches System am leichtesten zu lesen war. Diesbezüglich zeigte sich British Braille den beiden amerikanischen Systemen überlegen. Man beschloss, Britisch Braille weiter zu verbessern und zu versuchen, ein einheitliches System sowohl in den USA wie in Grossbritannien einzuführen. Die Briten zeigten kein Interesse, ihr System abzuändern, so dass sich die Amerikaner für British Braille mit gelichtetem Kürzungs- bestand entschlossen. Dies nannte man Grade 1 1/2, da Vollschrift als Grade 1 und Kurzschrift als Grade 2 bezeichnet wird.

Trotzdem bestand immer noch das Problem, dass die Amerikaner British Braille nur schwer lesen konnten. So beschloss man, bei den Briten nachzufragen, ob sie bereit wären, kleine Änderungen für den Fall anzunehmen, dass British Braille auch in den USA eingesetzt würde. Insbesondere waren sie überzeugt, dass die Briten Grossbuchstaben deswegen nie kennzeichneten, weil das Grossschreibungszeichen - damals Punkte 4 und 6 - das Wortbild zu sehr störte. Sie waren der Meinung, nur Punkt 6 würde auf grössere Akzeptanz stossen.

Den Briten war es egal, was die Amerikaner mit Grossbuchstaben machen wollten: Sie selber würden sie nach wie vor nicht kennzeichnen. Sie stimmten zu, die Verwendung einiger religiöser Kürzungen auf in Grossbritannien gedruckte religiöse Bücher zu beschränken. Somit hatten 1932 Grossbritannien und die USA schlussendlich doch fast identische Punktschriftsysteme. Nach all den Kontroversen und Änderungen in den USA wurde das britische System angenommen, und zwar nicht weil es etwa ein ideales System darstellt, sondern weil die Briten sich weigerten, selber grössere Änderungen zu machen.

 

Zurück zum Seitenanfang
Zurück zur Seminar-Übersicht
Zurück zur Hauptseite www.braille.ch