Bericht zur Marburger LaTeX-Tagung im März 2002:
Mathematikschrift am Computer - LaTeX setzt sich durch

von Vivian Aldridge, Basel

Lange hat es im deutschen Sprachraum eine Vielfalt - oder vielmehr: einen Wildwuchs - an Systemen beim Schreiben von mathematischen Ausdrücken in "Blindenschrift" gegeben. Die herkömmliche Mathematikschrift - meist: die "Marburger" oder die "internationale" Mathematikschrift genannt - ist davon die einzige auf der Basis von 6 Punkten und dabei auch die einzige, der die lesephysiologischen und psychologischen Bedürfnisse des lesenden Fingers zu Grunde liegt.

Mit dem Aufkommen elektronischer Schreib- und Lesemedien - zunächst im Hochschulbereich und dann allmählich, vor allem bei der integrierenden Beschulung blinder Kinder bis in die erste Klasse - gewannen auch andere Kriterien an Bedeutung. Am Computer können unter entsprechenden Rahmenbedingungen die gleichen Zeichen visuell am Bildschirm und haptisch an einer Braillezeile gelesen werden. Allerdings ist dies nur dann möglich, wenn eine Codierung - eine Schrift - eingesetzt wird, bei welcher eine Zeichenkonstellation in beiden Medien dieselbe Bedeutung hat. Eine Zeichenkette, die an der Braillezeile als tadellose Marburger Mathematikschrift gelesen wird, ist visuell am Bildschirm lediglich für einen verschwindend kleinen "eingeweihten" Personenkreis als mathematischer Ausdruck lesbar. Für alle anderen erscheint sie eher als zufällig zusammengeworfene Zeichenfolge. Die für sehende Betrachter des Bildschirms übliche flächige Darstellung mathematischer Konstrukte ist dagegen für lesende Finger unsinnig oder gar nicht umsetzbar.

Das Potenzial der elektronischen Schriftmedien sowie die Begleitprobleme haben in vielen den Ehrgeiz geweckt, eine Codierung zu (er)finden, die sowohl am Bildschirm wie auch an der Braillezeile gleichzeitig ohne unzumutbare Klimmzüge zu lesen ist. Auf dem faktischen Siegeszug ist nach vielen Jahren der Polygrafie aber ein System, das nicht extra für Blinde erfunden wurde, sondern gewissermaßen nur halbwegs zweckentfremdet werden musste: LaTeX (ausgesprochen: Latech).

Wie aus mehreren Artikeln in blind/sehbehindert zu entnehmen ist, wird LaTeX schon verschiedentlich eingesetzt. Wie sieht aber die Praxis aus? Wird nur der mathematische Kern der LaTeX-Schreibsyntax übernommen, wie dies schon vor einigen Jahren von Ulrich Kalina vorgeschlagen wurde? Oder müssen die blinden Mathematiklernenden auch diejenigen Befehle dieses Satzsystems (das nur fürs Schreiben und nicht fürs direkte Lesen entwickelt wurde) beherrschen, damit ihre Texte per Konvertierungsprogramm in flächiger, für sehende Leser normal aussehender Mathematik ausgedruckt werden können?

Eine zweitägige Tagung zum Thema "LaTeX als Mathematikschrift für Blinde" im Namen der VBS-AGs Braille, EDV und Integration sowie der Blista fand Anfang März in Marburg statt. Es ist dem Organisationsteam - allen voran Ulrich Kalina mit Unterstützung von Brigitte Betz - meisterhaft gelungen, einen Referenten- und Teilnehmerkreis zusammenzubringen, in dem alle deutschsprachigen Regionen, sämtliche Schulstufen und viele verschiedene Erfahrungshintergründe vertreten waren.

Im Verlauf der Tagung kamen alle auf ihre Kosten: Erfahrungsberichte und praktische Übungen am Computer gaben den Neulingen einen guten Einblick in die ganze Thematik und denjenigen mit Erfahrung einen Überblick über die unterschiedlichen Praxisformen. Für alle war es die Gelegenheit, sich zu überlegen, welche Fragen noch offen sind, und wo sich schon eine einheitliche Praxis abzeichnet.

Sämtliche Erfahrungsberichte befassten sich mit dem Schreiben bzw. dem Lesen von Mathematik am Computer mit Braillezeilenausgabe. Es schien darin Konsens zu herrschen, dass von Kindern kein fertiger Satzcode erwartet wird, von dem automatisch eine flächige Darstellung erzeugt werden könnte. Von ihnen werden nur diejenigen Elemente verlangt, die für den mathematischen Inhalt unmittelbar relevant sind. Die Lehrkräfte lesen genau die gleichen Zeichen in derselben Reihenfolge wie die Kinder - kein Problem, auch wenn es nicht ganz die vertrauten Schwarzschriftsymbole sind. Im gymnasialen Mathematik-Leistungskurs dagegen können Schüler angeleitet werden, ihre Arbeiten in sauberer Schwarzreinschrift abzugeben, auch wenn für sie selber das Produkt der Konvertierung gar nicht lesbar ist.

Eine Vielfalt anderer Aspekte der Verwendung von LaTeX als Mathematikschrift konnten erst angedeutet oder aber ganz bewusst als besprechungsbedürftig dargelegt werden. Bei so vielen offenen Fragen in Bezug auf eine sich noch etablierende Schreibtechnik drängt sich eine Koordinierung des weiteren Vorgehens auf. Am letzten Nachmittag wurden noch ein paar "heiße Eisen" angefasst und eine Arbeitsgruppe für die Förderung der Vereinheitlichung des LaTeX-Gebrauchs eingesetzt. Diese Gruppe soll Schlüsselfragen zum Einsatz von LaTeX zusammentragen und Vorschläge für eine gute Praxis sammeln, selber bringen und - hauptsächlich im Internet - allen Interessierten zur Diskussion stellen. Es wird gehofft, dass sie an Hand der Ergebnisse der offenen Diskussion Empfehlungen machen kann, die eine breite Anerkennung finden, auch wenn sie keine Rechtskraft genießen.

Es ist klar, dass mit der Gründung dieser Gruppe ein Prozess ausgelöst wird, der nicht bald abzuschließen ist. Da die Teilergebnisse fortlaufend im Internet veröffentlicht werden können, dürfen wir darauf hoffen, dass - auch beim Ausbleiben eines definitiven Regelwerkes in nächster Zukunft - ein potenzieller Trend zu divergierender Realisierung verhindert und ein Vereinheitlichungskurs eingeschlagen werden kann. Es wäre begrüßenswert, wenn sich möglichst viele Interessierte an den Diskussionen beteiligen würden. Zum einen, damit die Themen aus allen Richtungen durchleuchtet werden können, zum anderen, um die Konsensfähigkeit der Empfehlungen zu optimieren. Beiträge braucht es nicht nur im Sinne von Vorschlägen, Argumenten und Ansichten, sondern auch in Form von Problemen, die zu lösen sind.

Alle, die sich mit Blindenschrift und Mathematik beschäftigen, werden eingeladen, am Vereinheitlichungsprozess teilzunehmen. Schauen Sie bitte bei den folgenden Internet-Seiten rein:

Sie können auch Ihre Anregungen und Fragen richten an:
Vivian Aldridge
Strassburgerallee 86, CH-4055 Basel
Tel. (p): 0041/61.321.83.05
Tel. (D): 0041/61.317.98.68
Fax (D): 0041/61.317.98.69
E-Mail: mathe@braille.ch

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Vivian Aldridge, 2002.04.11
URL: http://www.braille.ch/mathe/tagu1ber.htm