LaTeX: pur oder adaptiert?

Eine persönliche Ansicht und skizzierte Fallbeispiele von Vivian Aldridge

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Einleitendes

Ich stelle hier meine persönliche Ansicht dar. Allerlei Rückmeldungen nehme ich gerne entgegen. Da diese Frage so fundamentaler Natur ist, muss sie ausdiskutiert werden, um eine Basis für die weitere Arbeit zu haben. Ich hoffe natürlich, dass ein Konsens schon existiert oder aber gleich erreicht werden kann, und möchte die Diskussionsrunde eröffnen.

Beiträge bitte an mathe@braille.ch oder an die Anschrift auf der Projekthauptseite.

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Die Frage

Alle, die LaTeX-Schreibweisen als Matheschrift schon eingesetzt haben, haben sich auch - bewusst oder unbewusst - folgende Frage gestellt und für sich beantwortet:

Diese Frage ist sehr fundamental und zugleich äusserst brisant. LaTeX ist eigentlich keine Schrift, sondern Teil eines Softwaresystems für den Satz von (vor allem technischen) Texten am Computer. Das LaTeX-Konzept beinhaltet das rein lineare Setzen von Texten - d.h. ein fortlaufendes Schreiben, ohne die Grundlinie zu verlassen - und deren Konvertierung in Grafiken, in denen der Text mit allen speziellen Zeichen und Abweichungen von der Grundlinie als fertig formatierte Seiten enthalten ist. Obwohl das Auge den Text in den Grafiken kaum anders als einen Text in, sagen wir, Word empfindet, ist er für Hilfsmittelprogramme für die Steuerung von Braillezeile und Sprache nicht zu erkennen.

"Echte" LaTeX-Skripte sind aufwändig zu schreiben und scheinen mir noch aufwändiger zu lesen, wenn sie - wie an der Braillezeile - als solche angeschaut werden. Mit den speziellen Programmen - eben dem LaTeX-Paket - werden sie zwar für das Auge konvertiert, nicht aber für den lesenden Finger.

Je nachdem, wie wir die Frage beantworten, können (müssen) wir die Schreibweisen des aktuellsten oder eines bestimmten LaTeX-Systems ohne Änderungen übernehmen, oder aber, wir müssen Vereinbarungen bezüglich verschiedener Aspekte der Schreibweisen treffen, damit eine einheitliche Praxis gewährleistet ist.

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Meine Antwort auf die Frage

Wenn wir echte LaTeX-Schreibweisen einsetzen woll(t)en, müss(t)en wir uns an alle relevante Konventionen halten. Dies zu machen hat einen grossen Vorteil, und zwar den, dass die Skripte per Programm für Sehende in ganz normal aussehende, in Schwarzschrift geschriebene mathematische und literarische Texte konvertiert werden.

Ich würde trotzdem behaupten, dass es im Grundschulbereich unzweckmässig ist , echte, unveränderte LaTeX-Schreibkonventionen zu übernehmen, da:

In der Schule können wir davon ausgehen, dass die Erwachsenen schon mit dem mathematischen Inhalt und dessen Notation vertraut sind. Ihnen ist daher eher eine Anstrengung - das Lesen der unkonvertierten Schreibweisen - zuzumuten, als der Schülerin bzw. dem Schüler das Schreiben von fehlerfreien konvertierbaren Skripten.

Die anderen Klassenmitglieder werden mathematisch nicht weiter sein als die blinde Schülerin bzw. der blinde Schüler, so dass dieses Argument für sie nicht zutrifft. Ich finde es dennoch unverhältnismässig zu verlangen, dass um dieser Kommunikation Willen zusätzlich zum nicht visuellen Verfolgen eines oft visuellen Unterrichts und zum Erlernen anderer Notationsformen als diejenigen, die der Klasse beigebracht werden, alles noch verkompliziert werden sollte. Eine solche Kommunikation muss anderweitig ermöglicht werden.

Je mathematisch gewandter die Anwender, desto grösser können die Anforderungen sein, die ihnen beim Schreiben (und Lesen) von mathematischen Termen gestellt werden. Deswegen kann von Studierenden in Universitäten und Fachhochschulen erwartet werden, dass sie das echte LaTeX-System beherrschen. Sie dürften auch erwarten, dass sie in den späteren Schulejahren an dieses System auch herangeführt werden.

Für jüngere und weniger begabte Lernende muss der Inhalt im Vordergrund stehen.

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Sind besondere Vereinbarungen wirklich notwendig?

Für den Fall, das man sich im deutschen Sprachraum darauf einigt, dass ein auf LaTeX-Schreibweisen basierendes System, LaTeX selber aber nicht, verwendet wird, müssen gewisse Vereinbarungen getroffen werden, damit alle das Gleiche verstehen.

So oder so - ob LaTeX selber oder ein abgewandeltes System eingesetzt wird -, gibt es aus meiner Sicht auch andere Aspekte, die aus dem Blickwinkel der Tastlesbarkeit mindestens im Sinne von Richtlinien geregelt werden sollen.

Ein paar Gegenstände solcher Regelungen möchte ich in den folgenden Abschnitten in Form kleiner "Fallbeispiele" präsentieren.

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Fallbeispiele A - unbedingt zu regelnde Aspekte eines adaptierten Systems

Fallbeispiel A1:
Zeichen für die An- und Abkündigung des mathematischen Modus

In dem LaTeX-System werden - müssen - mathematische Abschnitte gekennzeichnet sein. Dasselbe Zeichen dient sowohl der An- wie der Abkündigung des so genannten mathematischen Modus, und zwar das Dollar-Zeichen. Es gibt auch "grössere" An- und Abkündigungsmöglichkeiten.

Für den Satz eines mathematischen Werkes ermöglicht der Übergang in den mathematischen Modus nicht nur die Bewerkstelligung von Zeichen und räumlicher Verschiebungen, die sonst nicht zur Verfügung stehen (wie Potenzen, griechische Buchstaben usw.), sondern auch für andere typographische Merkmale. Beispielsweise werden im mathematischen Modus normale Buchstaben kursiv dargestellt, wie dies eben in vielen wissenschaftlichen Werken für Variablen üblich ist. Demzufolge kann Mathematik nicht im Text-, und sollte Text nicht im mathematischen Modus geschrieben werden.

In der Schule wird man dagegen oft kleinste mathematische Einschübe im Text brauchen, etwa die Potenz 2 für Quadratmeter. Und in den mathematischen Teile eines Werkes kommen auch Wörter in gewöhnlichem Text verhältnismässig häufig vor.

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Fallbeispiel A2:
Der inhaltsrelevante Leerschlag im mathematischen Modus

Wir wollen eine gemischte Zahl schreiben, sagen wir zweieinhalb. Im Textmodus von LaTeX brauchen wir nur folgendes zu schreiben:

2 1/2

Typografisch schön ist es zwar nicht, wird aber von allen gleich verstanden und kann einfach und schnell geschrieben und gelesen werden. Sobald wir aber im mathematischen Modus arbeiten, ist dies nicht mehr möglich, da LaTeX selber die Verwaltung von Leerräumen übernimmt und fast alle nicht codiert angegebenen Leerräume ignoriert. Das Wenigste, was gemacht werden muss, damit wir nicht "21/2" schreiben, ist, einen Backslash vor dem Leerschlag zu schreiben:

2\ 1/2

Den mathematischen Modus brauchen wir aber, um beispielsweise Quadratkilometer schreiben zu können.

Lassen wir auch die Leerschrittregeln für Text in mathematischen Ausdrücken walten, oder unterscheiden wir strikt zwischen den beiden Modi.

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Fallbeispiel A3:
Zeilenumbrüche

LaTeX sorgt nicht nur für die Darstellung im Kleinen von einzelnen mathematischen Notationselementen wie Bruchstriche und Wurzelzeichen, sondern auch für die Gestaltung von ganzen mathematischen Ausdrücken. Ein sinnvoller Umgang mit LaTeX als Schriftsystem beinhaltet auch die Kennzeichnung von grösseren mathematischen Formatierungseinheiten wie Gleichungen, die LaTeX im Gegenzug gleich fortlaufend nummerieren kann (oder sogar will).

Innerhalb dieser Einheiten spielen normale Zeilenumbrüche keine Rolle. Nur diejenigen, die als Backslash codiert sind, gelten überhaupt. Was in der Schwarzschrift in einer Zeile erscheinen soll, kann in LaTeX über viele Zeilen geschrieben werden.

Viele mathematische Ausdrücke in LaTeX-Schreibweisen haben auch gar nicht auf einer einzigen Zeile Platz, was zu weniger direkten Entsprechungen zwischen der mathematischen Schwarzschrift und der Darstellung in LaTeX-Schreibweisen führt. Dieses Problem kommt ebenfalls oft in herkömmlichen Blindenmathematikschriften auf. Anstatt jedoch jeden Zeilenumbruch mit einem speziellen Zeichen zu kennzeichnen, wird in diesen Systemen eher wie bei Text verfahren: Es gibt einen mathematischen "Trennstrich" (oder gar mehrere).

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Fallbeispiele B - fakultativ zu regelnde Aspekte des Systems

Fallbeispiel B1:
Leerschläge um Operationszeichen

Der lesende Finger nimmt im Allgemeinen die relative Position eines Punktes in Bezug auf andere Punkte besser wahr als seine absolute Position innerhalb der Form. Beispielsweise kann man meistens ein f und ein m viel besser unterscheiden als ein f und ein Pluszeichen. Die Marburger Mathematikschrift hilft dem lesenden Finger, indem ihre Regeln fast gänzlich verhindern, dass die tiefgesetzten Zeichen - also diejenigen ohne Punkte 1 oder 4 - zwischen Leerzeichen stehen. Meistens wird die Position eines solchen Zeichens an Hand der Zeichen der unmittelbaren Umgebung klar. Beispielsweise wird ein Plus-Zeichen zwischen Zahlen nach einem Leerzeichen geschrieben angeschlossen an die nächste Zahl.

LaTeX wurde erstens gar nicht als Lesesystem gedacht. Und zweitens wurde bei seiner Konzipierung nie an die Leseergonomie in Bezug auf den Tastsinn gedacht. Ein Pluszeichen kann beliebig zwischen Leerraum oder unmittelbar neben anderen Zeichen geschrieben werden.

Es steht der schreibenden Person frei, Leerzeichen nach Belieben zu verteilen. Es gibt aus meiner Sicht keinen Grund, die Leerzeichen nicht so einzusetzen, dass sie der Tastlesbarkeit dienen. Eine Regelung bzw. Richtlinie für solche zweckmässige Leerzeichensetzung würde gegenüber dem eigentlichen LaTeX-System keine Bedeutungsentstellung mit sich bringen, sondern nur eine selbstauferlegte Einschränkung der Möglichkeiten darstellen.

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Fallbeispiel B2:
Geschweifte Klammern für einfache Indizes

Die Zeichen für die Hoch- bzw. Tiefstellung von Termen bezieht sich auf das nächste Zeichen, falls dies keine geschweifte Klammer ist, und sonst auf den ganzen eingeklammerten Ausdruck. 2 hoch 6 können wir demzufolge auf zweierlei Weise schreiben:

2^6 oder 2^{6}

2 hoch 10 dagegen muss mit Klammern geschrieben werden:

2^{10}

Die beiden folgenden Ausdrücke haben auch unterschiedliche Bedeutungen:

a^2n und a^{2n}

Um möglichst einheitliche Schreibweisen zu erzielen, könnte man sich auf Regeln oder Richtlinien einigen, die die Wahl auf "freiwilliger" Basis einschränken würden. Hier drei mögliche Varianten:

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Vivian Aldridge (2002.20.24, letzte Änderung: 2002.02.24)
URL: http://www.braille.ch/mathe/latexpur.htm