Vivian Aldridge:
Die Vereinheitlichung der englischen Brailleschrift

Aktualisierte Version (2023) eines Vortrags aus dem Jahr 1997

Auch vor der Einfühung von "Unified English Braille" in den beiden Ländern ware die US-amerikanische und die britische Varianten der englischen Brailleschrift einander sehr ähnlich. Viele betrachteten sie als identisch außer in bezug auf Großschreibung. Das stimmt nicht ganz, da die Kürzungsregeln ein wenig unterschiedlich sind; dies bereitet den Lesern aber so gut wie kein Problem.

Vor hundert Jahren war die Lage ganz anders. Das erste Braillesystem in den USA war eine Variante des französischen Originalalphabets. In den 1860er Jahren entschloss sich jedoch ein gewisser William Bell Wait, das Brailleschriftsystem zu rationalisieren. Er erfand das sogenannte New York Point. Die Zeichen waren zwei Punkte hoch und von unterschiedlicher Breite. Die in Englisch häufig vorkommenden Buchstaben wurden mit wenigen Punkten geschrieben, die seltenen mit vielen. Daher sollte dieses System schneller gelesen und geschrieben werden können.

Kurz danach entschloss sich Joel W. Smith aus Boston, der die Überzeugung hegte, dass Zeichen mit drei Punkten in der Höhe und zwei in der Breite leichter lesbar seien, das System Brailles entsprechend abzuändern, damit auch es einige der Vorteile der New York Point aufweisen könnte. Auch er ordnete den häufigst vorkommenden Buchstaben die zeichen mit den wenigsten Punkten zu. Er nannte das System Modified Braille (Abgeänderte Brailleschrift), aber später wurde es as American Braille bezeichnet.

Jetzt mussten Leserinnen und Leser drei verschiedene Systeme lernen, um verschiedene Bücher und Zeitschriften lesen zu können. Staatsgelder standen beinahe ausschließlich New York Point zur Verfügung, was für politische Machtkämpfe sorgte.

1909 veranstaltete der Staat New York öffentliche Hearings, die entscheiden sollten, welches System in den neuen Tagesschulklassen einzusetzen ist. American Braille siegte, hauptsächlich deswegen, dass New York Point über ein umständliches System für die Kennzeichnung von Großbuchstaben und für Trenn- und Bindestriche, so dass diese kaum verwendet wurden. Seine Gegner behaupteten, dass die Leser die Schwarzschrift nur fehlerhaft schreiben konnten, weil sie von diesen beiden Sachen keine Ahnung hatten.

Andere Leute forderten wissenschaftliche Forschungen, um festzustellen, welches System am leichtesten zu lesen war. Diesbezüglich zeigte sich British Braille den beiden amerikanischen Systemen überlegen. Man beschloss, British Braille weiter zu verbessern und zu versuchen, ein einheitliches System sowohl in den USA wie in Großbritannien einzuführen. Die Briten zeigten kein Interesse, ihr System abzuändern, so dass sich die Amerikaner für British Braille aber mit nur kanpp einem Drittel des Kürzungsbestands entschlossen. Dies nannte man Grade one and a half (Grade 1 1/2), da Vollschrift als Grade 1 und Kurzschrift als Grade 2 bezeichnet wurde.

Trotzdem bestand immer noch das Problem, dass die Amerikaner British Braille nur schwer lesen konnten. So beschloss man, bei den Briten nachzufragen, ob sie bereit wären, kleine Änderungen für den Fall anzunehmen, dass British Braille auch in den USA eingesetzt würde. Insbesondere waren sie überzeugt, dass die Briten Großbuchstaben deswegen nie kennzeichneten, weil das Großschreibungszeichen - damals Punkte 4 und 6 - das Wortbild zu sehr störte. Sie waren der Meinung, nur Punkt 6 würde auf größere Akzeptanz stoßen.

Den Briten war es egal, was die Amerikaner mit Großbuchstaben machen wollten: Sie selber würden sie nach wie vor nicht kennzeichnen. Sie stimmten zu, die Verwendung einiger religiöser Kürzungen auf in Großbritannien gedruckte religiöse Bücher zu beschränken. Somit hatten 1932 Großbritannien und die USA schlussendlich doch fast identische Brailleschriftsysteme. Nach all den Kontroversen und Änderungen in den USA wurde das britische System angenommen, und zwar nicht weil es etwa ein ideales System darstellt, sondern weil die Briten sich weigerten, selber größere Änderungen zu machen.

Erst Ende des 20. Jahrhunderts gabe es wieder ernsthafte Bestrebungen, die englische Brailleschrift international zu vereinheitlichen. Diesmal machten auch die Briten mit. Das Ergebnis ist Unified English Braille, kurz UEB, das 2004 verabschiedet wurde. Nach einer Umfrage lehnte Großbritannien UEB für sich 2008 ab, beobachtete jedoch die Einführung in anderen Ländern. Eine zweite Umfrage mit Beispieltexten 2011 führte zu einem anderen Ergebnis und die Übernahme durch Großbritannien - samt Kennzeichnung von Großbuchstaben. 2012 folgte der Beschluss der Braille Authority of North America, UEB in die USA Einzufüren. Ein Jahrhundert nach den ersten Bestrebungen, war die Vereinheitlichung der englischen Brailleschrift endlich gelungen.

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Vivian Aldridge 2023-02-05 (Letzte Änderung 2023-02-05)